Vor ungefähr einer halben Stunde bin ich aus Berlin zurückgekommen. Obwohl Heiligabend und ein Wochentag noch dazu, fühlt es sich an wie ein Wochenende, an dem ich an einem Samstagabend von meiner Schicht aus Job 2 nach Hause komme. Wobei … nein, nicht nach Hause. In meine Wohnung. Kalt und leer. Und wäre dies ein solches Wochenende, dann wäre jetzt vermutlich der Punkt erreicht, an dem die Depressionen und all die anderen Dinge, die ich schwarz auf weiß attestiert auf einem Schreiben in meiner Schreibtischschublade liegen habe, reinkicken würden. Vielleicht würde ich auch noch Bier trinken, quasi die ungünstigste aller Optionen, und dann wäre der Tag irgendwann gelaufen, Mut und Mundwinkel schon längst in Richtung Keller abgesaust und mein Wille, irgendwie weitermachen zu wollen, nur noch eher so semi vorhanden.
Es ist aber nicht solch ein Wochenende. Es ist Heiligabend. Der Tag, den viele Menschen im Kreise ihrer Lieben verbringen. In meinem aktuellen Wohnort Magdeburg dürfte dieses Beisammensein für viele Einwohner*innen zusätzlich Gewicht bekommen haben durch den furchtbaren Terroranschlag vor vier Tagen auf dem hiesigen Weihnachtsmarkt, der unter anderem einem Kind das Leben kostete. Ein Ereignis, das die Stadt verständlicherweise noch immer sehr beschäftigt.
Wie gesagt, ich komme gerade aus Berlin zurück. Anlass meiner kurzen Stippvisite war eine Aktion meines Arbeitskollegen Antony. Wenn ich nicht gerade hier irgendwelche Dinge ins Internetz schreibe, arbeite ich im Hauptjob in einer Firma, die eine Praxisverwaltungssoftware für Psychotherapeut*innen herstellt. Das zusätzliche Geschmäckle, das sich durch den Umstand, der Täter von Magdeburg sei Arzt und Psychotherapeut gewesen, ausbreitet, das schmeckt Ihr doch auch gerade, oder? Jedenfalls: Antony kam vor ein paar Wochen mit einer Idee um die Ecke, bei der es darum gehen sollte, Schlafsäcke, Handschuhe, weitere wärmende Dinge sowie ein paar Knabbereien wie Weihnachtskekse usw. an Obdachlose zu verteilen. Antony habe selbst zwei Jahre auf der Straße gelebt, sagt er, daher sei es ihm jedes Jahr zu Weihnachten ein Anliegen, dies in einer random ausgewählten Stadt zu machen. Die Wahl fiel dieses Jahr auf Berlin. Für mich als gebürtigen Berliner ein Heimspiel. Kurz nach 14 Uhr machten sich Antony, ein weiterer Kollege namens Valerio und ich mit einem Kleinwagen, dessen Kofferraum und halbe Rückbank gefüllt war mit eben genannten Goodies, auf den Weg. Die weihnachtlichen Gaben stammten von anderen Kolleg*innen unserer Firma, die von der Aktion dank Antonys Postings im internen Intranet erfahren hatten.
Die Strecke Magdeburg – Berlin rissen wir in gut anderthalb Stunden ab. Das Auto stellten wir in einem Parkhaus nahe des KaDeWes ab. Sicherlich sollte es in der Nähe vom Bahnhof Zoo nicht allzu schwer sein, unsere Mitbringsel an Bedürftige zu verteilen, dachten wir. Tatsächlich gestaltete sich die Suche nach unserer Zielgruppe schwieriger, als wir es angenommen hatten. Wir liefen, vollgepackt bis hinten gegen, vom KaDeWe am Europa Center vorbei, um die Gedächtniskirche nebst zum Zeitpunkt unseres Besuches bereits geschlossenen Weihnachtsmarktes herum, um dann Kurs zu nehmen auf den besagten Bahnhof Zoo.
Wo wir denn unsere Goodies verteilen könnten, fragten wir eine Gruppe rauchender Sicherheitsleute in der Nähe vom Waldorf Astoria. Dort hinten, bei der Bahnhofsmission, erklärten sie und wiesen uns einigermaßen desinteressiert den Weg. Schon anhand unseres Gepäcks war der Truppe scheinbar klar, was unsere Mission war. Immerhin die positive Randnotiz in dieser Situation: Offenbar waren wir nicht die einzigen Leute, die mit derartigem Gepäck und Ansinnen unterwegs waren bzw. sind.
Wir machten uns also auf den Weg zur Bahnhofsmission. Dass diese aber seit dem 23.12. bis ins neue Jahr hinein geschlossen war bzw. sein würde, überraschte uns dann doch. Um die Geschichte ein wenig abzukürzen: Wir fanden hier oder da eine obdachlose Person, der wir uns respektvoll näherten. Entschuldigung, leben Sie hier draußen, fragten wir. Nicht immer war uns ganz klar, ob es eine Sprachbarriere gab, die Kälte wirkte oder die jeweilige Person einfach schon zu lange ein Leben auf der Straße lebte und deshalb nur wenig mehr als unverständliches Genuschel zu vernehmen war. Aber am Ende war auch kein großer Dialog erforderlich.
Dankbarkeit, ein kurzer Moment der Freude über diese kleinen Gaben, welche die meisten von uns gewiss nicht vor finanzielle Probleme stellen dürften, sind universell. Die meisten unserer Mitbringsel verteilten wir in der Nähe einer anderen Stadtmission, auch irgendwo in Bahnhofsnähe. Dort waren ohnehin Mitarbeitende damit beschäftigt, ein paar warme Getränke und kleine Speisen aus dem Kofferraum eines Autos heraus zu verteilen. Es überrascht Euch sicher nicht, dass wir unsere restlichen Schlafsäcke und Jutebeutel ziemlich schnell losgeworden sind. Kurz überkam sicher nicht nur mich der Gedanke, gerne mehr verteilt haben zu wollen, als wir unseren Rückweg zum Parkhaus antraten. Diesen schob ich aber schnell beiseite. Die Welt können wir nicht retten. Aber für ein gutes Dutzend Bedürftiger ist dieses Weihnachten vielleicht für einen kurzen Augenblick lang etwas weniger schlimm gewesen. Weil sie gesehen wurden. Weil an sie gedacht wurde.
Ich bin wieder zurück in dieser kalten und leeren Wohnung und denke sehr intensiv über das Gesehene und Erlebte nach. Genauere Details des Elends lasse ich aus Respekt der betroffenen Personen weg. Wie privilegiert ich doch bin. Wäre ich selbst auf diese Verteil-Idee gekommen? Ganz ehrlich? Vermutlich nicht. Weil das etwas ist, das in meiner Welt bisher komplett unterhalb meines Radars geflogen ist. Klar habe ich die Weihnachtszeit stets als Anlass genommen, Geld zu spenden. An Ärzte ohne Grenzen oder Sea-Watch oder was auch immer ich gerade für richtig empfand. Aber selbst derart aktiv zu werden, das hatte ich bisher nicht auf dem Zettel. Ich bin Antony sehr dankbar, dass er meine Sinne diesbezüglich geschärft, meinen Kompass neu eingenordet hat. Es war dies meine größte Lektion in Sachen Demut, die 2024 aufzuweisen hatte. Eine sehr wertvolle Erfahrung, die nachzuahmen ich gerne empfehle. Nicht nur, weil es den eigenen Horizont erweitert. Sondern auch, weil man quasi wie nebenbei etwas Gutes tut.
Antony macht das schon eine Weile und auch im kommenden Jahr wollen wir eine solche Aktion starten. 2025 wird es Magdeburg sein, wo wir obdachlosen Menschen eine kleine Freude, ein kleines Gefühl von „ihr werdet gesehen, auch wenn ihr hier draußen lebt“ schenken möchten. Es gibt auch schon ein paar erste Ideen diesbezüglich. Wir werden im neuen Jahr in die Planung übergehen. In einem ersten Anfall von Euphorie stellen wir uns langfristig etwas vor, wie das, was der Musiker Frank Zander seit 30 Jahren in Berlin macht: das Weihnachtsessen im Berliner Estrel für Obdachlose. Nach den schrecklichen Ereignissen kann Magdeburg wirklich ein paar sehr positive Dinge gut gebrauchen. (Dass es verschiedene Initiativen in MD schon gibt, habe ich an dieser Stelle bewusst ausgeklammert. Ein „mehr davon“ ist gewiss kein Schaden, vielleicht docken wir dann einfach irgendwo mit an.)
Bis dahin wird aber noch einiges Wasser die Elbe hinabfließen. Jetzt ist erst einmal Weihnachten. Antony, Valerio und ich sind jeweils in unsere Wohnungen zurückgekehrt. Vielleicht kalt und leer, aber immerhin, wir haben eine. Und zwei Handvoll Menschen auf den Straßen Berlins müssen zumindest in dieser Nacht nicht so sehr frieren wie sonst. Und das ist das schönste Geschenk, das wir uns hätten machen können.
In diesem Sinne: Friedliche Weihnachten Euch allen, passt auf Euch auf.