Wie Peter Parker zu Spider-Man wurde, ist nicht zuletzt durch die Filme des Marvel Cinematic Universe hinreichend oft erzählt worden. Auch bei Captain America ist vermutlich selbst durchschnittlich Interessierten einigermaßen klar, wie zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs aus dem Lauch Steve Rogers ein Supersoldat wurde. In den Comics sind diese „Origin Storys“ immer und immer wieder erzählt, dem Zeitgeist entsprechend modernisiert und für ein neues Publikum aufbereitet worden. Was durchaus sinnvoll ist. Die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft beispielsweise ist in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts ersonnen worden – mit nach heutigen Maßstäben eher dürftigen Charakterisierungen, speziell die Nebencharaktere betreffend. Und will man neue Leserschaften erschließen oder Interessierte an das Medium Comic heranführen, dann kann man einfach nicht immer und immer wieder mit den ollen Kamellen aus der Mottenkiste um die Ecke kommen. Im Rahmen der Reihe „Marvel Must-Have“ brachte Panini Comics vor ein paar Tagen mit „Mythos“ eine Neuauflage auf den Markt, der den Beinamen „Must-Have“ verdient hat wie schon lange nicht mehr.
„Mythos“ erschien ursprünglich zwischen 2006 und 2008 als Mini-Serie, in der Eisner-Award-Gewinner Paul Jenkins verschiedene Ursprungsgeschichten neu erzählte. Nicht nur wurde Spider-Man und Captain America von Jenkins der Staub aus dem Scheitel geklopft, auch die Anfänge von Ghost Rider, der Fantastic Four, dem Hulk und der X-Men wurden neu interpretiert. Somit hatte Jenkins seinen Schreibgriffel an ein paar der populärsten Figuren des Marvel-Comicuniversums gelegt und den jeweils allerersten Auftritt in die Neuzeit überführt. Allerdings tat er das so behutsam, gefühl- und vor allem respektvoll, dass niemand fürchten muss, die Geschichten nicht mehr wiederzuerkennen. Gleichzeitig bieten die Neuauflagen die Chance für Neu- und Quereinsteigende, teilweise schon ziemlich betagte Klassiker in neuem Gewand zu erleben.
Das aber macht „Mythos“ noch nicht zwingend zu einem Must-Have, zumal Jenkins’ Lauf nicht der erste und gewiss auch nicht der letzte war, bei dem versucht wurde, die Geschichte erneut durchzukauen. Das Highlight dieses Büchleins sind die wirklich grandiosen Aquarellmalereien von Paolo Rivera, der sonst vor allem als Cover Artist für Marvel seine Lorbeeren verdient(e). Einige Bilder sind so schön, so eindringlich, dass sie mich in ihren besten Momenten an die Werke des großen amerikanischen Malers Edward Hopper erinnern. Das ist hauptsächlich bei Spider-Man, Ghost Rider und Captain America der Fall. Hopper, der von 1882 bis 1967 lebte und ein Vertreter des Amerikanischen Realismus ist, wies, so lässt es sich bei Wikipedia nachlesen, auf die Einsamkeit des modernen Menschen und die Leere des modernen Lebens hin. Und diese Einsamkeit, diese Leere, sie findet sich auch in stilistisch sehr ähnlichen Bildern Riveras, wenn Peter Parker den quasi selbst verschuldeten Verlust seines Onkels Ben betrauert. Oder wenn Johnny Blaze seine Seele an den Teufel verkauft, um das Leben seines Adoptivvaters zu retten – nur um dann festzustellen, dass Satan ihn gelinkt hat. Oder wenn Bruce Banner auf die Reste dessen blickt, was einmal seine Forschung, seine Arbeit war – und nun als grünes Monster in ihm schlummert. Oder, oder, oder… Es ließen sich zahlreiche Beispiele finden, was die Arbeit von Paolo Rivera nur noch eindrucksvoller macht. Ob das Absicht oder Zufall ist, lasse ich mal offen. Aber es wirkt.
Ich kann mich ja schnell für wunderschön gezeichnete oder gemalte Comics begeistern, aber die Arbeit von Rivera hier ist eine echte Augenweide und definitiv Weltklasse! Panini neigt einstweilen dazu, immer mal wieder Comics in einem größeren Format auf den Markt zu bringen, als es bei ihnen die Regel ist. Das Prinzip dahinter, warum dieser oder jener Comic in einem Sonderformat erscheint, habe ich bis heute nicht verstanden. Aber auch, wenn „Mythos“ damit aus dem Rahmen gefallen wäre – hier hätte ich mir der wunderschönen Bilder wegen wirklich eine größere Variante gewünscht.
„Marvel Must-Have: Mythos“ ist dieses Mal wieder ein Beitrag zu dieser fortlaufenden Reihe, der es wirklich mehr als verdient hat, als „Must-Have“ betitelt zu werden. Die inhaltlich sorgsame Interpretation von Paul Jenkins, gepaart mit den großartigen Bildern von Paolo Rivera machen dieses Buch im Prinzip zu einer Pflichtanschaffung für alle, welche die früheren Varianten verpasst haben. Und für alle, die sich für die Ursprünge von einigen der beliebtesten Figuren aus dem Hause Marvel interessieren, sei es, weil sie Comics gerade für sich entdecken, bei Marvel auf den Geschmack gekommen sind – oder neugierig sind, warum der Lieblingsmensch gerade mit leuchtenden Augen in den bunten Bildern versunken ist, während doch eigentlich in der Glotze gerade Germany’s Next Top Model läuft. Beide Daumen hoch an dieser Stelle für diesen modernen Klassiker!