Kriminalisierte Seenotretter*innen: Interview mit einem, der aufs Meer fuhr, um Flüchtende vor dem Ertrinken zu retten
📸: Tim Lüddemann

Kriminalisierte Seenotretter*innen: Interview mit einem, der aufs Meer fuhr, um Flüchtende vor dem Ertrinken zu retten

Als Menschenrechte „werden moralisch begründete, individuelle Freiheits- und Autonomierechte bezeichnet, die jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins gleichermaßen zustehen. Sie sind universell (gelten überall für alle Menschen), unveräußerlich (können nicht abgetreten werden) und unteilbar (können nur in ihrer Gesamtheit verwirklicht werden)“. So leitet die Wikipedia ihren Artikel über eine der vermutlich größten Errungenschaften der Moderne ein. Zumindest in der Theorie. Dass es in der Praxis aber damit leider nicht weit her ist, können wir jeden Tag beobachten, wenn wir einen Blick in die Nachrichten werfen.

Am 10. Dezember des Jahres 1948 wurde durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Aber was beinhaltet diese besagte Erklärung eigentlich, die bedauerlicherweise nur ein Ideal ist, völkerrechtlich aber keine Verbindlichkeit besitzt? Werfen wir einen Blick auf die ersten zehn Artikel, wie sie die Vereinten Nationen Ende der 1940er formulierten:

Artikel 1

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Artikel 2

Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des Weiteren darf kein Unterschied gemacht werden aufgrund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.

Artikel 3

Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.

Artikel 4

Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel in allen ihren Formen sind verboten.

Artikel 5

Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Artikel 6

Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.

Artikel 7

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.

Artikel 8

Jeder hat Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen Handlungen, durch die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzt werden.

Artikel 9

Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden.

Artikel 10

Jeder hat bei der Feststellung seiner Rechte und Pflichten sowie bei einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Beschuldigung in voller Gleichheit Anspruch auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.

Claus Kleber, bekannt wohl vor allem als Moderator des heute-journals des ZDF, hat anlässlich des Jahrestages der Menschenrechte eine sehenswerte Dokumentation zum Thema gemacht, die Ende des letzten Jahres ausgestrahlt wurde. Sie deckt sich in Teilen mit dem Thema, um das es mir hier und heute – nach dieser zugegeben langen Einleitung – geht. Wie sehr wir es in unserem ach so modernen Europa mit den Menschenrechten halten, beobachten wir immer wieder ganz bezeichnend, wenn es um darum geht, wie wir mit Flüchtenden umgehen. Mit den Ärmsten der Armen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, die sich auf eine gefährliche Reise über das Mittelmeer begeben und nicht nur einer ungewissen Zukunft entgegenblicken, sondern oft auch gar nicht wissen, ob sie die vermeintlich sicheren Küsten lebend erreichen.

Wie wir es mit dem Thema Menschenrechte halten, das zeigt sich aber auch daran, wie mit denen umgegangen wird, die ehrenamtlich viel riskieren, auf eigene Faust und eigene Kosten rausfahren aufs Meer, um die Flüchtenden, die in Seenot geraten, zu retten. Und die sich dann, im schlimmsten Fall, auf der Anklagebank wiederfinden. Das geht mir nach wie vor nicht in den Schädel, warum Leute, die Seenotrettung betreiben, ganz plötzlich kriminalisiert werden!

Am 10. Dezember 2018 hatten die Menschenrechte ihr 70. Jubiläum und während ich also die Sendung von Claus Kleber schaute, hatte ich sehr deutlich das Gefühl, dass wir uns von dem Ideal mit jedem Jahr wieder mehr entfernen. Und noch etwas passierte an diesem Tag: Ich erhielt eine Mail von einem von jenen, die sich in einer NGO engagieren, aufs Mittelmeer rausfahren und Ertrinkende vor dem sicheren Tod zu retten versuchen. Und die für ihr Tun nun in diesem Jahr möglicherweise mit einem Prozess rechnen müssen.

Hendrik Simon, so der Name dieses ehrenamtlichen Seenotretters, wollte zum Ende des Jahres noch einmal seine Geschichte erzählen. Ich erfuhr, dass er dies auch in Form von Vorträgen und Infoständen im Rahmen von Feine Sahne Fischfilet-Konzerten tat. Mich interessierte seine Geschichte, da mir bei der Art und Weise, wie Schutzsuchende und Seenotrettende behandelt werden, sehr regelmäßig – verzeiht bitte den Ausdruck – der Arsch platzt! Anstatt dass wir die Ursachen von Flucht angehen – ich denke da an Waffenexporte und dergleichen – planieren wir also lieber die, die losfahren und Menschenleben retten! Bevor ich mich da weiter reinsteigere, lasse ich nachfolgend lieber Hendrik zu Wort kommen.

Hendrik Simon an Bord eines Schiffes. Er trägt einen Helm und eine Schwimmweste und lächelt in die Kamera.
📸: Ruben Neugebauer

Roman Empire: Erzähl uns etwas von Dir. Was machst Du im bürgerlichen Leben und vor allem: wie kamst Du dazu, mit einem Schiff über das Meer zu fahren und Flüchtende zu retten? Ein paar Euro zu spenden, das fiele sicher vielen Deutschen ein, aber sich so zu engagieren, das ist doch leider eher die Ausnahme. Gab es ein Schlüsselerlebnis, das als Auslöser diente?

Hendrik Simon: Im normalen Leben bin ich freiberuflicher Informatiker und schon relativ lange in verschiedenen Kontexten politisch aktiv. Im Winter 2015 haben mich Freunde gefragt, ob ich für ihre NGO Cadus nach Lesvos kommen könnte, um dort das RHIB [Rigid-Hulled Inflatable Boat, Anm. d. Red.]zu fahren, das sie zur Rettung von Flüchtenden eingesetzt haben. Die Route Türkei – Griechenland war zu dieser Zeit die am stärksten frequentierte, weil die Strecke einfach sehr kurz ist. Knapp sieben Kilometer sind es an der kürzesten Stelle zwischen Lesvos und dem türkischen Festland. Trotzdem starben dort viele Menschen, weil die Boote überfüllt oder untauglich waren. Die Rettungswesten wurden oftmals auf dem Schwarzmarkt gekauft und waren aus Material gefertigt, das keine Auftriebshilfe war, sondern die Menschen eher noch hinabzog.

Die griechischen Behörden waren mit der massiven Zahl der Ankünfte überfordert und so haben sich verschiedene NGOs gefunden, die dort unterstützt haben. Mit Logistik und medizinischer Versorgung an Land, aber auch auf dem Wasser, wo Boote mit Flüchtenden zur sicheren Landung begleitet oder Menschen von sinkenden Booten gerettet wurden. Cadus hatte in Kooperation mit Sea-Watch ein Boot, das genau das gemacht hat. Meine Freunde wussten, dass ich ganz gut mit solchen Booten umgehen konnte und haben mich gefragt. Leider hatte ich zu dem Zeitpunkt keine Zeit. Das war im Sommer 2016 anders.

„Als Freiberufler kann ich meine Zeit relativ frei einteilen und habe das Privileg, einfach mal sagen zu können, ich fahre da jetzt drei Wochen runter. Außerdem hatte ich Fähigkeiten, die dort benötigt wurden.“

Der EU-Türkei-Deal war verabschiedet und die türkische Seite sorgte dafür, dass die Anzahl der Ankünfte massiv sank. Viele NGOs in der Ägäis stellten daraufhin ihre Arbeit auf dem Wasser ein, auch weil ihnen von den Behörden immer mehr Steine in den Weg gelegt wurden.

Zu diesem Zeitpunkt betrieb Cadus zusammen mit einer anderen NGO die Minden, einen ehemaligen Seenotrettungskreuzer aus der Nordsee, auf der zentralen Mittelmeerroute. Hier wurde ebenfalls ein RHIB-Fahrer benötigt, ich hatte Zeit und musste nicht lange überlegen. Als Freiberufler kann ich meine Zeit relativ frei einteilen und habe das Privileg, einfach mal sagen zu können, ich fahre da jetzt drei Wochen runter. Außerdem hatte ich Fähigkeiten, die dort benötigt wurden. Da war es für mich das Selbstverständlichste in einer Situation, in der Menschen sterben und ich einen – wenn auch nur kleinen – Unterschied machen kann, da hinzufahren und das zu machen.

Blick auf die Brücke eines kleinen Schiffes, es sind verschiedene nautische Instrumente und Gerätschaften zu sehen.
📸: Solidarity at Sea

Roman Empire: Mit welchem Schiff warst Du unterwegs? Und wie lange? Wie sah Euer Leben an Bord und wie Eure Einsätze aus?

Hendrik Simon: Ich war seit 2016 in insgesamt sechs Einsätzen im zentralen Mittelmeer unterwegs. 2016 auf der Minden, ein kleines Schiff, gerade mal knapp über 23 Meter lang und nur für sechs Personen Besatzung ausgelegt. 2017 dann auf der IUVENTA, etwas größer, mit einer Crew von bis zu 16 Menschen an Bord und 2018 dann auf der Sea-Watch 3, ein knapp 50 Meter langes Schiff mit bis zu 22 Personen Besatzung.

Die Einsätze auf der Minden und der IUVENTA dauerten in der Regel 14 Tage, von denen wir bis zu zehn Tage im Einsatzgebiet vor der libyschen Küste patrouilliert sind. Die restlichen Tage wurden für Übergabe und ausführliche Trainings genutzt. Auf der Sea-Watch 3 dauerten die Einsätze etwas länger – bis zu drei Wochen – einfach aufgrund des anderen Einsatzkonzeptes.

Die kleineren Schiffe waren ständig im Einsatzgebiet und sicherten Fluchtboote vor allem ab. Das heißt, wurde eines gefunden, wurden zunächst Rettungswesten ausgeteilt, damit im Falle des Sinkens alle eine Auftriebshilfe haben. Dann wurde sich um die medizinischen Notfälle gekümmert. Die wurden, wenn nötig, an Bord unseres Schiffes versorgt. Dafür hatten wir eine Krankenstation sowie eine*n Arzt / Ärztin und ein*e Krankenpfleger*in an Bord. In Notfällen wurden auch mal alle Menschen aus einem Boot an Bord genommen, allerdings immer nur temporär zur Stabilisierung der Lage. Die kleinen Schiffe waren nicht dafür ausgelegt, große Gruppen von Menschen zu transportieren.

Während wir mit dem RHIB mit dem Austeilen der Rettungswesten beschäftigt waren, versuchten unsere Einsatzleiter*innen über die Seenotrettungsleitstelle in Rom (IMRCC) größere Schiffe zu finden, die in der Lage sind, die Menschen nach Italien zu transportieren. Dies waren häufig Schiffe anderer NGOs, der italienischen Küstenwache, Militär- oder Handelsschiffe. Wenn sich ein Schiff gefunden hatte, haben wir die Flüchtenden dort an Bord gebracht und uns auf den nächsten Einsatztag vorbereitet. Das heißt, das Deck aufgeräumt und geputzt, die Rettungswesten geordnet und verstaut und das RHIB wieder einsatzfähig gemacht.

Auf der Sea-Watch 3 waren die Abläufe etwas anders, weil sie zu den größeren Schiffen zählt, die Menschen nach Italien bringen können. Dort haben wir zunächst auch immer versucht, die Menschen an andere Schiffe zu übergeben, die ohnehin auf dem Weg nach Italien waren, um weiter im Einsatzgebiet bleiben zu können. In der Regel wurde uns allerdings vom IMRCC ein sicherer Hafen in Sizilien zugewiesen, wohin wir dann bis zu 36 Stunden mit den Menschen an Bord unterwegs waren. In dieser Zeit haben wir versucht, den Aufenthalt der Flüchtenden bei uns an Bord so angenehm wie möglich zu gestalten. Sie sollten möglichst einen Moment der Ruhe haben zwischen der Hölle, die sie durchgemacht hatten und dem Lagersystem, das auf sie wartete.

Die Iuventa auf offener See, die sich bei Seegang stark zur Seite neigt.
📸: Fedrico Sutera

„Hier wird durch staatliche Eingriffe aktiv die Rettung von Menschenleben verhindert.“

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