Die Schönheit des Normalen: Olli Schulz und die Alltags-Geschichten in „Vom Rand der Zeit“ 🔊
📸: Winson

Die Schönheit des Normalen: Olli Schulz und die Alltags-Geschichten in „Vom Rand der Zeit“ 🔊

Für gewöhnlich liest man Kindern zum Einschlafen aus einem Buch vor. Oder erzählt ihnen eine Geschichte. Damit sie gut in die Nacht kommen und noch besser schlafen können in der Gewissheit, jemand ist da und passt auf. Das verliert sich, je älter wir werden, eines Tages müssen wir uns diese Geschichten selbst suchen. Dazu können wir Bücher lesen, Podcasts hören, zu Hörspielen der Drei-Fragezeichen einschlafen – oder uns von Musik das Gefühl vermitteln lassen, dass am Ende alles gut wird und es so lange noch nicht das Ende ist, wie eben nicht alles gut ist. Und ebendieses Gefühl, das sich manchmal annimmt wie die Lieblingskuscheldecke, aus der man sich nicht herausschälen möchte, weil es darin so schön wohlig und warm ist, vermitteln nicht allzu viele Musikschaffende bzw. Alben.

Aber es gibt Künstler*innen, über die sich behaupten lässt, es sei so sicher wie das Amen in der Kirche, dass auch die neue Veröffentlichung dieses Lieblingskuscheldeckengefühl vermitteln wird. Oder das der Hand einer sehr vertrauten Person, die man auf die Schulter gelegt bekommt und diese Person sagt: setzt dich mal hin, ich erzähl’ dir eine Geschichte. So war es bisher immer, wenn Olli Schulz ein Album veröffentlicht. Und ich darf wohl annehmen, dass es niemanden von Euch allzu sehr überrascht, wenn ich direkt schon in der Einleitung verkünde, dass es auch dieses Mal wieder so ist. „Vom Rand der Zeit“ ist, wie schon zuvor, Olli Schulz in Bestform.

Die Albernheiten, die Olli Schulz in der Vergangenheit immer wieder eigen waren, sie sind auf „Vom Rand der Zeit“ nicht mehr zu finden. Ein „Sportboot“ beispielsweise, wie es noch auf Vorgängeralbum „Scheiß Leben, gut erzählt“ (2018) zu finden war, fehlt genauso wie „Schmeckt wie…“ (gleiches Abum), „Mach den Bibo“ (vom 2009er-Album „Es brennt so schön“) oder das Zwischengequatsche in „H.D.F.K.K.“ („SOS - Save Olli Schulz“, 2012). Das neue Album scheint einen erwachsenen, reiferen Blick auf das Leben zu werfen – vorwiegend auf jene Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, darin unter die Räder gekommen sind.

Ein wunderschönes, berührendes Beispiel ist „Am Rand der Zeit“. Olli Schulz, als Wahl-Berliner, verbrachte der Überlieferung nach in seinen Anfangstagen in der Hauptstadt viel Zeit in Kneipen. Lernte die Menschen kennen, ihre Geschichten. Beobachtete, hörte zu, merkte sich dies und das. Und betätigt sich hier einmal mehr als ein Chronist, der behutsam und einfühlsam eine Lebensgeschichte in ein Lied gießt, die bei oberflächlicher Betrachtung nichts Besonderes ist. Eine, wie sie wahrscheinlich unzählige Male gelebt wird auf dieser Welt. Und die dann, irgendwann, vom Rand der Zeit fällt und in Vergessenheit gerät.

Manche Menschen sind wie Bilder / Die vom Licht langsam verblassen / In ihren Herzen sind Geschichten / Die in keinen Rahmen passen“, singt Olli in diesem Lied und ich muss gestehen, dass ich jedes Mal bis ins tiefste Innere ergriffen bin von dieser Ballade. Es ist ein kleines, aber feines musikalisches Vermächtnis für so viele Menschen, deren Geschichte für die Welt unbedeutend ist, aber für ein paar wenige die ganze Welt bedeutet. Ich möchte beinahe wetten, dass „Am Rand der Zeit“ Erinnerungen weckt an Menschen, die einmal mal Teil Eures Lebens waren – ganz gleich, ob deren Lebensweg mit dem besungenen ähnelt oder nicht. An gefühlsintensiven Songs mangelt es Olli Schulz nicht. Dieser hier ist ganz vorn mit dabei.

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