Foto: Scanner / Dark Dimension

Elektronische Musik mit Gefühl und Seele: „Interference“ von The Saint Paul

Elektronische Musik, sagen manche, besäße keine Seele. Es sei nur beliebiges, am Computer zusammengeklicktes (oder in der heutigen Zeit: KI-generiertes) Gemache, was ja schließlich jeder könne, der einen Computer bedienen kann.

Ja? Ist das so? Denkst Du das auch?

Na dann mal los, überzeuge mich. Ich will gar nicht abstreiten, dass es nie so leicht war wie heute, Musik zu machen (oder: machen zu lassen) und diese via Spotify, SoundCloud & Co. in Umlauf zu bringen. Die klassische Labelarbeit, bei der etwa A&R (Artists and Repertoire) Manager Demos sichten oder selbst aktiv auf die Suche nach neuen, spannenden Acts gehen, sie ist tendenziell nicht mehr nötig. Und doch für Musikliebhabende vielleicht so wichtig wie noch nie. Erfahrung und Seele schlägt Maschine. Wird vor allem in der Kunst immer so bleiben, KI kann nur aufbauen auf etwas, das dem menschlichen Geiste entsprungen ist.

Ich will auch gar nicht abstreiten, dass es da draußen haufenweise seelenlosen Müll gibt, mit dem die Musikplattformen aller Geschmacksrichtungen geflutet werden. Das würde ich aber nicht auf elektronische Musik beschränken wollen. Kacke bleibt Kacke; es spielt dabei keine Rolle, ob es schrammelt oder ballert.

Um jetzt mal den Bogen zu spannen zum eigentlichen Thema dieses Schreibens: Gerade ganz besonders im elektronischen Teil der Düsterszene gibt es ganz schön viel Musik mit Gefühl. Mit einer Seele. Und ganz vorne mit dabei, obwohl nie an der Pole-Position etwa auf Festivalslots angekommen, ist eine Band aus dem Ruhrgebiet, über die ich schon schreibe, seit sie mit der EP „Rewind The Time“ im Jahr 2010 auf meinem musikalischen Radar aufgetaucht sind.

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Es scheint eine Laune des Universums zu sein, dass gravierende Änderungen an meinem Blog (neues Design, kompletter Relaunch, whatever) und die Veröffentlichung eines neuen Albums der feinen Herren aus dem Pott im gleichen Zeitraum stattfinden. Das war mindestens bei „Three“ (2017) und bei „Core“ (2021) so – und auch dieses Mal gab es zeitliche Überschneidungen. Und damit komme ich zu „Interference“, dem nunmehr fünften Langspieler der Band.

Nach drei Veröffentlichungen für Infacted Recordings haben es The Saint Paul den Genre-Kollegen von [:SITD:] gleichgetan und sind zur Dark Dimensions Label Group gewechselt. Ein eher kleines Label, aber gefühlt schon seit ungefähr 1812 am Start und mit einer erlesenen Auswahl düsterelektronischer Musik, die nicht immer so gut ins Ohr geht wie beispielsweise Peter Alexander, durchaus etwas für Connaisseur*innen.

Meines Erachtens sind The Saint Paul dort gut aufgehoben. Denn auch die oft sehr eingängige, sehr gefällige elektronische Popmusik mit düsterem Anstrich ist trotz der musikalischen Leichtverdaulichkeit nicht zwingend für die breite Masse.

Eine große Stärke der Band: Wichtige Themen, jenseits üblicher Klischees

In der Vergangenheit war es immer wieder eine ganz besondere Stärke von TSP, sich mit Themen zu beschäftigen, die mit den gängigen Szene-Klischees, bestehend aus Weltschmerz und suffering in solitude noch ganz wohlwollend umschrieben sind, nichts zu tun haben. Ich denke beispielsweise an „Viktor“.

Basierend auf der wahren Geschichte eines Menschen, den die Band mal nach einem Konzert kennenlernte. They kam als Junge zur Welt, fühlte sich aber wie ein Mädchen. Unfassbar starke, gute und wichtige Sache, hier Trans-Menschen eine Stimme zu geben. Welchen Stand Trans-Leute in unserer Gesellschaft haben, brauche ich nicht weiter ausführen, denke ich. „Viktor“ war Teil des Albums „Core“, erschien als 2021. Und seitdem sind die Dinge mit Sicherheit nicht besser geworden.

Oder „But He Will“, vom 2015er-Album „Days Without Rain“, das sich mit dem Thema Demenz auseinandersetzt. Auch so eine fürchterlich beschissene Krankheit für alle Betroffenen. Ihr merkt es vielleicht schon: The Saint Paul haben etwas zu erzählen. Sänger und Texter Paul hat offenbar sehr feinfühlige Antennen, um Themen zu finden. Ich glaube ja, dass er die Dinge, über die er schreibt und singt und die er dann mit Kollege Marc in Musik gießt, fühlt.

Vermutlich ist da zunächst sogar erst das Gefühl, das irgendwie kanalisiert werden muss und am Ende steht ein Album für uns. Um darin abzutauchen, um über dieses oder jenes nachzudenken, um sich verstanden und letztlich irgendwie auch nicht ganz so alleine zu fühlen. Elektronische Musik hat keine Seele?

Auch auf „Interference“ gibt es immer wieder diese großen Betrachtungen der Welt und des Lebens. Eines meines aktuellen Lieblingslieder, nicht nur dieses Albums, ist „Crown of Imperfection“. Wer an Selbstzweifeln leidet, wer sich selbst unsinnigerweise immer mit anderen vergleicht, wer immer glaubt, nicht genug zu sein, wird hier möglicherweise eine sehr erhebende Empowerment-Hymne für sich selbst finden. In dieser wunderwunderschönen Ballade singt Paul, wie so oft ohne die Stimme verfremdet, dafür aber ganz viel Gefühl hineingelegt zu haben: „But every arrow, every stumble, every fall has thought me lessons to stand tall“. Trage Deine Unvollkommenheit wie eine Krone. Sie ist eine Stärke, keine Schwäche.

Nun ist nicht alles von gedrosseltem Tempo auf diesem Album. „A Million To One“ beispielsweise geht ab wie Schmidts Katze. Eine flotte Nummer, die zeigt, warum FuturePop mal der ganz heiße Scheiß war. Steht ganz in der Tradition von heiß geliebten Immergrünen wie „E:Dot“ und wird mit Sicherheit in Clubs und bei Konzerten eine ganz hervorragende Figur machen. Diesen Track auf dem Bike gehört besteht die Wahrscheinlichkeit, gleich nochmal so schnell in die Pedale zu treten.

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Ach, es gäbe schon wieder so viel zu erzählen über dieses fünfte Album von The Saint Paul. Zum Beispiel, dass sie mit „End of Days“ ein ziemlich gelungenen Electro-Stampfer geschaffen haben, der überall dort für gute Laune sorgen dürfte, wo man Electronic Body Music zugeneigt ist. Das Ding dampft förmlich aus den Boxen, Junge, Junge!

Oder „Little Something“, eine Art wunderbar verfrickelter Power-Ballade, die nicht zuletzt durch die choralen Effekte im Hintergrund ziemlich Eindruck schindet. Das sind ganz schön dicke Geschütze, die TSP hier auffahren, nicht nur inhaltlich, und über die Zahl der Tonspuren dieses Tracks denke ich lieber gar nicht erst nach, sonst wird mir direkt schon wieder schwindelig.

Balladen sind ohnehin eine der Kernkompetenzen der Band, daher überrascht es nicht, dass es – neben den schon erwähnten – so einige inmitten der insgesamt 11 Tracks gibt. Ballade ist hier bitte nicht gleichzusetzen mit Herzschmerzgeschunkel. Nur, weil das Tempo reduziert ist und die Melodieführung direkt aufs Empfindungszentrum abzielt, heißt das nicht, dass Paul & Co. nichts weiter zu erzählen hätten.

Phoenix of the the Flames“ beschäftigt sich beispielsweise mit den ganzen krummen Dingern, die hinter verschlossenen Türen ausgemacht werden. Und für die wir oft alle die Zeche zahlen. Aber so sehr man es auch versucht: dauerhaft lässt sich die Wahrheit eben nicht unterdrücken, ganz gleich wie viel Verschwörungsmüll man in die Welt rotzt und/oder wie viel Geld man dafür in die Hand nimmt.

Musikalisch erfinden sich The Saint Paul nicht neu. Warum auch? Die haben irgendwann beschlossen, dass diese Form elektronischer Musik, mal schnell, mal langsam, mal einhüllend, mal treibend, genau das richtige Mittel ist, um ihre Geschichten zu erzählen. Ein funktionierendes System soll man schließlich auch nicht anfassen.

Das bedeutet nicht, dass Stillstand herrschen würde im Hause TSP. Die Produktion ist wieder noch ein bisschen dynamischer geworden, wieder noch ein bisschen feiner ausdifferenziert – was all jenen gefallen dürfte, die Musik beim Hören gerne in ihre Bestandteile zerlegen – und, je nach Sachlage, deutlich druckvoller. Ich denke schon wieder an „End of Days“. Schalldruck ist Macht und so.

Der Autor dieser Zeilen zusammen mit der Band The Saint Paul, hier beim Electronic Dreamz Festival 2014 in Braunschweig. | 📸: Avalost

Gut gefallen hat mir auch, dass Sänger Paul einmal mehr versucht hat, seine Stimme möglichst vielseitig einzusetzen. Mir würden spontan diverse Genre-Kollegen einfallen (ich wähle bewusst die männliche Form), die seit Jahr und Tag im gleichen Singsang vor sich hin trällern. Kann man alles so machen, wenn man das für die Umsetzung seiner künstlerischen Vision so haben möchte. Aber es ist trotzdem schön zu sehen, dass es immer wieder Kunstschaffende gibt, die sich nicht auf dem Ausruhen, was sie auf dem Album zuvor gemacht haben. Oder dem davor.

Interference“ ist ein richtig schönes Album und ein mehr als gelungener Einstand bei Dark Dimensions/Scanner geworden. Kann man nicht anders sagen. In höchstem Maße abwechslungsreich und von Meisterhand konzipiert und durchgeführt. Man merkt eben in jedem Ton, dass die Band nicht erst seit gestern Musik macht. Beinahe ist es mit The Saint Paul wie mit Wein. Je länger sie als Band reifen, umso besser werden sie.

Interference“ lädt dazu ein, sich für die Dauer von rund 50 Minuten entführen und vor allem berühren zu lassen. Elektronische Musik hat keine Seele? Hör Dir „Interference“ an und dann reden wir gerne noch mal.

🔊: Roman Empire / Avalost

Erscheinungsdatum
7. Juni 2024
Band / Künstler*in
The Saint Paul
Album
Interference
Genre
FuturePop, Dark Electro
Label
Scanner / Dark Dimension
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