Zu glauben, Menschen mit Superkräften würden diese ganz selbstlos in den Dienst und zum Wohle der Menschheit einsetzen, ist reichlich naiv. Da es an Superkräften auf der Welt mangelt, nicht aber an sehr reichen Menschen (quasi das Real-World-Äquivalent dazu) können wir ziemlich genau beobachten, dass da zunächst einmal eigene Interessen durchgesetzt werden. Elon Musk, inzwischen komplett rechtsdrehender Veschwörungsheini mit eindeutig zu viel Geld und somit Macht, demonstriert uns quasi jeden Tag, dass zwar, frei nach Peter Parkers Onkel Ben, mit großer Macht auch große Verantwortung kommt, diese aber zu vielen Menschen einfach vollkommen scheißegal ist. Paradebeispiel ist und bleibt Musk. Kaum auszudenken, was los wäre, wenn dieser Typ auch noch einen Hitzeblick hätte oder fliegen könnte!
Dass Superwesen demnach im Auge behalten und gelegentlich an die Leine gelegt werden müssen, war und ist das Thema von „The Boys“. Es gibt mir aber gar nicht um die Serie, die man sich bei Amazon reinziehen kann und der keine groteske Geschmacklosigkeit zu schade ist, um speziell Amerika den Spiegel vorzuhalten. Sondern um die zugrundeliegende, von Garth Ennis („Preacher“) geschaffenen und geschrieben Comics, die schon lange vor dem Streaming-Hit zahlreiche Grenzen überschritten hatte. Und die nun von Panini im praktischen Taschenbuchformat neu aufgelegt wird.
Als Garth Ennis und Darick Robertson im Jahr 2006 die ersten Hefte von „The Boys“ veröffentlichten, war das dahinterstehende Konzept grundsätzlich nicht mehr so gänzlich neu. Menschen, die aus diesem oder jenem Grund Superkräfte hatten und diese so einsetzten, wie es ihnen beliebte, dabei teilweise auch sehr fragwürdige oder abgründige Entscheidungen trafen, standen vorher schon im Mittelpunkt von Comics. Ich denke da an „The Authority“ (1999), bei der die Gruppierung von Superwesen zwar tendenziell das Gute wollte, dafür aber bereit war, krasse Dinge zu tun. Opfern eines gesamten Kontinents nebst der Menschen, die darauf lebten, inklusive. Auch die von J. Michael Straczynski geschaffene und geschriebene Serie „Rising Stars“ (ebenfalls ab 1999) war lange vorher da und beleuchtete, wie Menschen, die mit besonderen Kräften geboren wurden, auf die Gesellschaft reagieren. Und die Gesellschaft auf sie.
„The Boys“ aber setzte alledem die Krone auf. Nicht nur aufgrund wirklich übertrieben hoher und auch sehr drastisch gezeigter Gewalt, sondern auch wegen jeder Menge Sex, dem geschickten Spiel mit Klischees und so viel Abgründigkeit, wie sich gerade noch verkaufen lässt. Garth Ennis lieferte eine bitterböse und außerordentlich blutige Parodie auf den Superheldenzirkus ab, der neue Maßstäbe setzte. Maßstäbe, die bisher nicht übertrumpft wurden und bei denen es sich eigentlich auch nicht mehr lohnt, da noch eins draufsetzen zu wollen. Die Grenzen der Geschmacklosigkeit waren und sind erreicht. Dabei, und das ist der Clou, steckten zwischen all den Grausamkeiten geschliffene Dialoge, geschicktes Storytelling, haarscharfe Charakterzeichnungen und jeder Menge finsterer Satire. Vielleicht würde von „The Boys“ heute niemand mehr sprechen und es demnach auch keine Serie bei Amazon geben, hätte sich Ennis nicht scham- und maßlos dem Mittel der absoluten Übertreibung bedient.
Und ähnlich wie die Serie verliert auch der Comic keine Zeit mit Nebensächlichkeiten. Billy Butcher, Anführer der „Boys“, die im Dienste der C.I.A. unterwegs sind, um Supes (Menschen mit Superkräften) auszuschalten, sofern sie zu einer Bedrohung werden, vögelt direkt seine Vorgesetzte – beide hassen sich wie die Pest! – und Neuzugang Hughie bleiben nach einer unfreiwilligen Begegnung mit dem ultraschnellen A-Train nur noch die Hände seiner Liebsten. Ihr kennt die Szene vielleicht aus der Serie.
Diese „Pocket Edition“ genannte Neuauflage der Boys beinhaltet die ersten 14 Hefte. Und ein Blick in die Geschichte zeigt: Es hätte beinahe über das sechste Heft hinaus keine Fortsetzung gegeben. Bis dahin erschien die Serie beim DC Label WildStorm, wurde dann aber ziemlich plötzlich abgesetzt, weil, der Überlieferung nach, die Serie dem zuständigen Redakteur zu heftig war. Das überrascht nicht.
Denn nach dem Auftakt, der das Verhältnis der Boys zu den Supes, speziell den übermächtigen Sieben rund um Homelander klarmachte (inklusive Macht- und damit sexuellem Missbrauch von Starlight, die den Herren Homelander und Co. via Oralsex ihre Ambitionen, dazugehören zu wollen, zu beweisen hatte), ging es erst richtig zur Sache! In einem Storybogen bekommen es Billy und seine Jungs beispielsweise mit Tek-Knight zu tun, dessen ehemaliger Sidekick Swingwinger mit einem Todesfall in der Schwulenszene in Verbindung gebracht wird. Dass hier Bruce Wayne / Batman sowie Robin auf wenig charmante Weise auf die Schippe genommen werden, ist ziemlich schnell ziemlich klar. Der Tek-Knight leidet neuerdings unter Zwangsstörungen, die ihn dazu zwingen, buchstäblich (sorry für die Wortwahl, aber alles andere wäre nicht adäquat) alles zu bumsen, was ein Loch hat. Und manchmal ist selbst das egal. In einem großen, letzten Akt knallt Tek-Knight … ah, nee, das kann ich hier nicht wiedergeben, das lest mal selber! Kann man sich eigentlich nicht ausdenken, was hier alles passiert, Garth Ennis hat es trotzdem getan. Daher überrascht es also wirklich nicht, dass man bei DC offenbar der Ansicht war, dem irischen Autor würde der Helm brennen. Und zwar so richtig.
„The Boys“ ist brutal, geschmacklos, grausam, grotesk, die Panels sind bis oben hin gefüllt mit Missbrauch, massiver Gewalt und Sex. Und bei alledem ist diese megakrasse, ultraderbe Satire auf Superwesen, aber auch auf speziell amerikanische Gesellschaftsverhältnisse ziemlich genial. Irre gut geschrieben, sehr dialogstark und die krassen Bilder passen hervorragend zum deftigen Inhalt! Man kann sicher darüber diskutieren, ob Garth Ennis hier den Bogen nicht manches Mal überspannt hat. Aber wenn der Mann hinter all den knalligen Schockeffekten eine Message übermitteln wollte, war das in dieser immer abgestumpfteren Welt vielleicht gar nicht anders möglich. Wer „The Boys“ bisher verpasst hat, kann für den sehr schmalen Preis von 15 Euro für rund 340 Seiten endlich direkt einsteigen. Eine Ausrede gäbe es jedenfalls keine mehr.