Wenn es London an einem nun wirklich nicht mangelt, dann dürften das wohl Musicals sein. Kürzlich erst bin ich durch die Stadt an der Themse flaniert und stellte fest: Gefühlt kann man sich an jeder Ecke irgendeine Produktion anschauen, große wie kleine. Nun ist London gleichzeitig aber auch die Geburtsstadt eines meiner größten musikalischen Helden. David Bowie ist ein Kind Londons und hätte am 10. Januar 2017 seinen 70. Geburtstag gefeiert. Nach der Premiere und Aufführung seines Musicals „Lazarus“ in New York zog das Stück für eine kurze Spielzeit um in das Londoner King’s Cross Theatre. Dem tollsten Weihnachtsgeschenk, das man einem Musical- und Bowie-Fan wie mir machen konnte, habe ich es zu verdanken, dass ich nicht nur neulich durch London spaziert bin. Sondern darüber hinaus nicht irgendein Musical anschauen konnte, sondern genau das: „Lazarus“. Dass dies kurz nach Bowies Geburtstag passierte, ist dabei eine hübsche Fußnote. Ebendarum starte ich die Bloggerei 2017 mit einem Bericht von der „Lazarus“-Aufführung in London am 15. Januar 2017.
Der Mann, der vom Himmel fiel
Dass „Lazarus“ kein einfach zu verdauendes Stück seichter Musical-Unterhaltung werden würde, war mir im Vorfeld schon irgendwie klar. Schließlich war dies neben „Blackstar“ die letzte Arbeit, die der Mann, der vom Himmel fiel, vor seinem Tod fertigstellen konnte. Und genau um diesen Mann geht es auch. „Lazarus“ basiert auf dem Roman „The Man Who Fell To Earth“ von Walter Tevis aus dem Jahre 1963. 1976 mit David Bowie in der (Haupt-)Rolle des Thomas Jerome Newton verfilmt.
Kurzer Exkurs: es ging darin um jenen Thomas Newton, einem humanoid-reptiloiden Außerirdischen, welcher auf der Erde strandet, um an Wasser für seinen staubigen Heimatplaneten zu kommen. Als Mensch getarnt, gründet Newton die Firma World Enterprises, ein milliardenschweres Unternehmen, das ihm den Bau eines Raumschiffs und somit die Rückkehr nach Hause ermöglichen soll. Da Newton als Wesen vom anderen Stern intelligenter ist als die Menschen, stehen ihm telepathische und empathische Wege offen, sein Ziel zu erreichen. So weit jedenfalls die Theorie. Tatsächlich war es aber so, dass sich Newton in die Kleinstadtbewohnerin Mary-Lou verliebte und aufgrund seiner Fähigkeiten (um nicht zu sagen: seiner Gabe) an der Rücksichtslosigkeit, dem Zynismus und der Brutalität der Menschen zerbrach. Enttarnt, missbraucht und weggesperrt sowie beraubt all seiner Fähigkeiten und vor allem seiner Wurzeln endet Newton als ein Erdbewohner unter Unzähligen. Verdammt dazu, scheinbar ewig zu leben und zu leiden.
Das Musical „Lazarus“ knüpft inhaltlich daran an. Einige Zeit (Jahre?) nach den Ereignissen in „Der Mann, der vom Himmel fiel“ finden wir Thomas Newton in seinem New Yorker Apartment vor, wo er – unfähig zu sterben, nach Hause zu gelangen oder in irgendeiner anderen Form dem Gefängnis seiner irdischen Existenz zu entkommen – seine Tage damit verbringt, literweise Gin in sich hineinzuschütten und Fernsehen zu gucken. Seine geliebte Mary-Lou ist längst nicht mehr da, wobei es den Zuschauern und ihrer Fantasie überlassen bleibt, ob Mary-Lou ihren Alien-Freund verlassen hat, oder ob sie gestorben ist. Überhaupt spielt das ganze Stück oftmals nur mit vagen Andeutungen und überlässt es den Zuschauern, ihre eigene Wahrheit zu finden.
Der erste Bowie-Song, der in diesem Musical erklingt, ist auch direkt das Titelstück „Lazarus“. „Look up here, I’m in heaven / I’ve got scars that can’t be seen / I’ve got drama, can’t be stolen / Everybody knows me now“, singt Michael C. Hall hier Bowies Zeilen und windet sich in einem Akt der Verzweiflung vorm Fenster seines Apartments. Betrauert den Verlust seiner Mary-Lou und verflucht seine Existenz, die einer Gefangenschaft gleicht. Man spürt förmlich, wie sich der Mann aus dem Fenster stürzen möchte, um davonzufliegen. „Just like that bluebird / Oh I’ll be free“. Dass die Songs David Bowies, die hier in diesem Musical verwendet wurden, inhaltlich passen wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, versteht sich von selbst. Bowie wird damals schon sehr konkrete Vorstellungen davon gehabt haben, in welche Richtung sich dieses Musical entwickeln soll, als er dem Autor des Stückes, Enda Walsh, seinerzeit ein vierseitiges Manuskript in die Hand drückte. In diesem Entwurf hatte er drei neue Charaktere erfunden, welche um die Hauptfigur Newton herum platziert werden sollten. Da ist einerseits dieses Mädchen, von dem bis zum Schluss nicht abschließend gesagt werden kann, ob es real ist oder doch nur in Newtons immer fragiler werdenden Verstand existiert. Da ist andererseits Elly Lazarus, Newtons Assistentin, die sich zwischenzeitlich in ihren Boss verliebt und trotz ihrer Ehe noch immer von der ganz großen Liebe träumt. Und dann ist da außerdem Valentine, quasi der Antagonist und eine Art Massenmörder besonderer Art. Dieser Valentine bringt nicht die Liebe, er zerstört sie. Oder, wie er sagen würde: „There is always another love to kill“.
„There is always another love to kill“
All diese Figuren tauchen plötzlich in Newtons Leben auf und beginnen, eine Reihe dramatischer Ereignisse in Gang zu setzen. Doch es gibt noch mehr Figuren, die in Newtons tragischer Existenz direkt und indirekt eine Rolle spielen. So zum Beispiel Michael, der in einem Anfall von Bedauern verkündet, Newtons Firma verkauft zu haben. The Man who sold the World. Oder dieses Pärchen, das sich dadurch gefunden hatte, dass die beiden in zwei verschiedenen Taxis saßen, sich anschauten, es in jenem Moment zwischen beiden funkte und nun im Begriff war, zu heiraten. Na ja, jedenfalls bis zu dem Moment, an dem Valentine auf den Plan tritt. „Valentine, Valentine / It’s in his scrawny hands / It’s in his icy heart / It’s happening today“. Dieses vorhin erwähnte Mädchen hingegen erklärt Newton, der im Verlaufe der Handlung immer mehr zu einem passiven, verzweifelten Beobachter jener Geschehnisse mutiert, dass sie wüsste, wie er diese Welt verlassen könne. Um nicht zu viel von der Handlung zu verraten: Es dürfte wohl auf der Hand liegen, dass dies in einem Musical, dessen Titel sich auf das religiöse Motiv von Tod und Wiederauferstehung bezieht, nicht ohne die Erbringung eines Opfers funktionieren kann …
Auch wenn Bowie die treibende Kraft hinter diesem Musical war und für die musikalische Untermalung ausschließlich seine Songs zum Einsatz kamen – auf die Bühne gebracht hat er es dennoch nicht allein. Bekanntlich stammt die Geschichte aus der Feder von Enda Walsh. Regie führte der vielfach ausgezeichnete Ivo van Hove. Der Niederländer konnte im Laufe seiner Karriere unter anderem zweimal den Olivier Award, die höchste Auszeichnung im britischen Theater, mit nach Hause nehmen. Für das Bühnenbild verantwortlich war der ebenfalls mehrfach ausgezeichnete Jan Versweyveld.
Ein riesiger Fernseher als Thomas Newtons Fenster zur Welt
Überhaupt das Bühnenbild: im Prinzip sehen die Gäste während der Show stets die gleiche Szene: einen Einblick in das Apartment von Thomas Newton. Links sein Bett, rechts der riesige Kühlschrank voller Gin und in der Mitte: ein noch größerer Fernseher, Newtons Fenster zur Welt. Television im Wortsinn, quasi. Immer wieder sind auf dem Fernseher irgendwelche Filmschnipsel zu sehen, die das Geschehen auf der Bühne untermauern sollen. Oder, als interessanter künstlerischer Kniff, Aufzeichnungen der Darsteller während ihrer jeweiligen Szenen. Immer ein kleines bisschen zeitversetzt wird der zwischen Melancholie und Verzweiflung hin- und hergerissene Newton Zeuge der Dinge, die sich in seiner Welt abspielen. Manches Mal verschwindet die Band auch komplett hinter einer Leinwand (oder dergleichen) und die ganze zur Verfügung stehende Fläche wird mit Videoprojektionen angestrahlt. So zum Beispiel eine (vermutlich New Yorker) Hauptverkehrsstraße in der Rushhour. Oder alte Aufnahmen aus dem Berlin der 1970er und 1980er-Jahre. Das erzeugt unheimlich Stimmung und Atmosphäre und lässt die vermeintlich schlichte Kulisse sehr viel dynamischer, lebhafter, größer und interessanter wirken, als es zunächst den Anschein macht.
Randnotiz: die Umgestaltung des Bühnenbildes und der Wechsel der Szenen sind so genial umgesetzt worden, dass ich – völlig fokussiert auf das gelungene Spiel der Darsteller*innen – immer wieder überhaupt nicht mitbekommen habe, wie sich etwas veränderte. Bis diese Veränderungen eben abgeschlossen waren. Auch hübsch: Darsteller*innen, die teilweise zunächst noch auf dem Fernseher zu sehen waren – und dann „in echt“ dahinter hervor in die wirkliche Welt traten. Manchmal schien es, als wären sie direkt aus Newtons Fernseher ausgestiegen. Ein Trick, so einfach wie effektiv.
„Dexter“ Michael C. Hall überzeugt auf ganzer Linie
Kommen wir zu den Darsteller*innen. In der Hauptrolle zu sehen und zu hören war Michael C. Hall, vielen von Euch wohl bekannt durch seine Rollen in „Dexter“ oder „Six Feet Under“. In seiner Interpretation des Thomas Newton überzeugt er nicht nur durch sein Schauspiel, sondern kommt stimmlich dem David Bowie manches Mal erstaunlich nahe. Weiterhin außerordentlich beeindruckend: Michael Esper als Valentine. Besonders sein Wutausbruch in einer wirklich bemerkenswerten Szene war Gänsehautbringer de luxe. Wow, nicht mehr und nicht weniger ist dazu zu sagen! Auch Amy Lennox als Elly wusste zu überzeugen – vor allem gegen Ende hin, als auch sie sich in einer sich stetig abwärts drehenden Spirale aus Verzweiflung und Wahnsinn befand. All diese drei Darsteller gaben auch stimmlich eine ganz hervorragende Figur ab. Da ist es fast schon schade, dass ausgerechnet die vierte Hauptfigur, das Mädchen (gespielt von Sophia Ann Caruso) vorwiegend im Hinblick auf die Gesangsleistung ziemlich deutlich hinter den anderen blieb. Vor allem zu Beginn war das eher so meh. Möglicherweise gab bzw. gibt es etwas in ihrem Schauspiel, das die Produzenten dazu bewogen hatte, ausgerechnet sie in dieser doch sehr zentralen Rolle zu besetzen. Von meinem Sitzplatz aus – also ca. 25 Meter Luftlinie von der Bühne entfernt – war davon jedoch nicht viel zu bemerken. Wäre sie nicht die Figur gewesen, die für Thomas Newton den Weg zur Erlösung, den Weg nach Hause bedeutet hätte – sie wäre wohl einfach irgendein Mädchen gewesen, das da im Nachthemdchen über die Bühne geflattert wäre. Aber wer weiß, vielleicht war auch genau das die Intention dahinter.
Liebe und Verlust, Tod und Auferstehung, Erlösung und Heimkehr
Liebe und Verlust, Tod und Auferstehung, Erlösung und Heimkehr (wo und was auch immer das sein mag) – dies sind die zentralen Themen in diesem Stück, dessen Handlungsverlauf mit seinen manchmal scheinbar nebensächlichen Figuren nicht immer ganz einfach nachzuvollziehen ist. „Lazarus“ ist keines dieser Musicals, aus denen man beschwingt und fröhlich nach Hause geht. Wenn sich nach dem als Ballade dargebotenen „Heroes“-Duett von Michael C. Hall und Sophia Ann Caruso der Vorhang senkt – unmittelbar, nachdem Thomas Newton auf die eine oder andere Weise das Gefängnis dieser Welt, seines Verstandes oder seines Lebens verlassen hat – dann macht sich eine eigenartige Schwere breit. „Oh we’re nothing / And no-one will help us / And maybe we’re nothing / Then you’d better not stay / But we could be safer / Just for one day.“ „Lazarus“ hat das Potenzial dazu, ziemlich bedrückend zu sein. Und dabei die Frage aufzuwerfen, was es eigentlich ist, dieses „zu Hause“ – ein bestimmter Ort? Eine bestimmte Person, mit der man gern zusammen ist? Ganz was anderes? – und wie man es findet, verliert und wie man dorthin (zurück-)kommt. Vor allem aber, was es kostet, dieses Ziel zu erreichen.
Es ist sehr gut vorstellbar, dass Bowie schon wusste, wohin seine Reise gehen würde, als der Stein für dieses Musical ins Rollen kam. Die gleiche Schwere, die „Blackstar“ innewohnt, schwebt auch über diesem Stück. Daher sollte allen Interessierten klar sein, dass sie möglicherweise einigermaßen betroffen und betreten das Theater verlassen werden. Wo auch immer „Lazarus“ künftig aufgeführt werden wird, wenn es aus dem King’s Cross Theatre in Bowies Heimatstadt London ausgezogen ist.
Das King’s Cross Theatre selbst ist von außen ein ziemlich unscheinbarer Bau und sieht vor allem aus wie ein Zelt. Wartet dafür aber im Inneren mit einer sensationellen Akustik auf. Wie auch immer die das hinbekommen. Weniger schön: die Sitzreihen. Ich hatte schon ein wenig das Gefühl, auf einem Sitz von einem easyJet-Flieger zu sitzen. Für die Spieldauer von circa einer Stunde und 45 Minuten ohne Pause wie in diesem Fall war das aber ok. Bei längeren Stücken überlege ich aber ernsthaft, ob ich da nicht eher ein anderes Haus bevorzugen würde – fantastischer Sound hin oder her.
Abschließend: Wer sollte sich „Lazarus“ anschauen, wenn sich die Gelegenheit dafür bietet? Schwer zu sagen. Bowie-Fans wären als Antwort zu naheliegend. Und zu einfach. Es mögen seine Ideen und seine Songs gewesen sein, die mit in die Grundhandlung des Buches von Walter Tevis eingeflossen sind. Funktioniert hätte dieses in einigen Momenten beinahe schon Faust’sche Stück vermutlich aber auch ohne Bowies Zutun. Dafür ist die hier erzählte Geschichte von Liebe und Verlust selbiger sowie der Suche nach Erlösung und Heimkehr zu universell, als dass sie nicht auch mit anderen Mitteln hätte umgesetzt werden können. Was bleibt, ist eine Empfehlung an alle Interessenten von ernsthaften Musicals, die sich weder davor scheuen, einer manchmal schwurbeligen Story zu folgen noch davor, das Theater mit dem Kopf voller Gedanken und emotional aufgewühlt zu verlassen. Das renommierte Musikmagazin Rolling Stone nannte „Lazarus“ eine „Tour de Force“ – und das trifft den Nagel ziemlich genau auf den Kopf. Bowies letzte Arbeiten, „Blackstar“ und eben „Lazarus“, waren zweifelsfrei von seinem nahenden Tod beeinflusst. Dementsprechend ist auch die Stimmung während und nach der Show. Kurz und gut – es lohnt sich, nicht zuletzt der Darsteller*innen wegen, einfach ist es aber nicht. This way or no way, you know I’ll be free.