Das Eis, auf das man sich begibt, ist wohl gar nicht mal so dünn, wenn man als Fan einer Band vermutet, dass da wohl nüscht mehr kommt, wenn das letzte Album aus dem Jahre 1999 stammt. Das ist eine derart lange Zeit, die sich in der kurzlebigen Musikwelt gleich noch mal so lange anfühlt. Aber bekanntlich leben vor allem Totgesagte länger und manchmal kommen sie eben wieder. Nachdem ich nun gerade 20 Cent ins Phrasenschwein gesteckt habe, widme ich mich der Vermutung, dass es Fans schon irgendwie nach einer Art Wiedergutmachung dürstet, wenn ‚ihre‘ Band nach vielen Jahren Funkstille zurückkehrt. Denkbar, dass den Herren von Beborn Beton ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. Ihr erstes Album nach (sehr großzügig aufgerundet) fast zwei Dekaden trägt den Namen „A Worthy Compensation“. Selten war ein Name passender und gleichzeitig tiefstapelnder. Das Traditionslabel Dependent spricht in diesem Zusammenhang übrigens von einem Meisterwerk. Und auch wenn klar ist, dass ein Label wohl kaum etwas anderes behaupten kann, noch dazu nach so langer Abstinenz der eigenen Schützlinge, bin ich mehr als geneigt, dieser Einschätzung zu folgen. Herrschaftszeiten, Vorhang auf für die wohl angemessenste Entschädigung des Jahres.
Kurz vor der Jahrtausendwende war es, als das Trio Stefan Netschio (Gesang), Stefan Tillmann (Programmierung und Elektronik) und Michael Wagner (Elektronik) mit ihrem Album „Fake“ zuletzt so richtig in Erscheinung getreten sind. 1989 gegründet und 1993 mit dem Debüt „Tybalt“ höchst offiziell an den Start gegangen, hatten sich Beborn Beton bis dahin nicht nur eine treue Fangemeinde erspielt, sondern sich auch eine Nische irgendwo zwischen Electro-Pop und EBM gesucht. Tja und nachdem der Vertrag mit ihrem damaligen Label Strangeways ausgelaufen war, verschwanden Beborn Beton so ein wenig von der Bildfläche. Klar, zwar war immer wieder mal was zu vernehmen – ein Remix hier, ein Compilation-Beitrag da (wie z.B. mit „24-7 Mystery“ auf der 2008er „Advanced Electronics Vol. 7“, das auf diesem Album übrigens in anderer Form vorliegt) – aber das alles war kein Vergleich mehr zu der Aktivität in den 1990er Jahren.
Von der Vision eines kompromisslosen Albums …
Wer nun aber glaubt, die Herren Beborn Beton hätten in der Zwischenzeit auf der faulen Haut gelegen und der Welt beim Rotieren zugeschaut, irrt. Es wird überliefert, dass sie in der Zeit nach „Fake“ den Plan entwickelten, ein kompromissloses Album zu schaffen. Eines, bei dem sie sowohl im Hinblick auf Komposition als auch Produktion keinerlei faule Kompromisse eingehen wollten. Wozu denn auch? Sie hatten ja schließlich auch kein Label mehr im Hintergrund, das eventuell hier und da Änderungen hätte einfordern können und jetzt, so ganz ohne Termindruck, alle Zeit der Welt, ihre Visionen umzusetzen. Was sie schlussendlich auch mit voller Hingabe und ausführlichster Detailverliebtheit taten. Geschlagene sieben Jahre sollen Beborn Beton an den Songs auf „A Worthy Compensation“ gearbeitet haben. Irgendwann entlang des Weges suchten sie sich Verstärkung in Form des Produzenten Olaf Wollschläger. Der Mann hatte beispielsweise beim letzten Mesh-Album „Automation Baby“ gezeigt, dass er einem ohnehin schon tollen Album den letzten Schliff verpassen kann. Die Sache rund machen. Da hat sich offenkundig zusammengetan, was zusammengehört und an einem Album gearbeitet, das – so viel kann ich spätestens an dieser Stelle verraten – als der neue Maßstab in seinem Genre angesehen werden muss.
Wenn die ersten Töne von „Daisy Cutter“, dem Eröffnungsstück des Albums, erklingen, dann bekommen die Ohren jedes Synthie-Pop-Fans Besuch von den Lippen. Ein wohliges Grinsen ist schlicht unvermeidlich bei dieser genialen Komposition, bei der eindrucksvoll gezeigt wird, wie man Synthie-Pop entstauben kann, ohne sich zu weit davon zu entfernen oder in unhörbare Experimente zu verfallen. Ein gelungener Auftakt, gar keine Frage, aber das Beste steht ja noch aus und kommt wie so oft zum Schluss. „I Believe“ direkt im Anschluss ist nicht mehr und nicht weniger als eine perfekte, spritzige Pop-Hymne. Camouflage wären in ihren besten Tagen sicher froh gewesen, wenn ihnen so eine Großtat geglückt wäre. Falls jemand mal herausfinden möchte, wie eingängig und fesselnd geht – so. Und nicht anders.
Nicht nur, dass Beborn Beton das überraschendste und gelungenste Comeback des Jahres geglück ist, nö, das Resultat ihrer jahrelangen Fleißarbeit ist zudem das definitive Synthie-Pop-Album des Jahres 2015! Besser war es bisher nicht, besser wird es wohl auch nicht mehr werden.
… und der gelungenen Umsetzung dieser Vision
„24-7 Mystery“ war ja schon bekannt. Zum einen von besagter „Advanced Electronics“-Compilation. Zum anderen aber auch von der letzten „Dependence“, mit dem die Rückkehr Beborn Betons sowie das Signing bei Dependent angekündigt wurde. Dass der Song schon ein paar Tage mehr auf dem Buckel hat, ist ihm nicht anzumerken. Immer noch tanzbar und fesselnd, fügt er sich prima ins Gesamtbild ein. Ganz, ganz großes (Gefühls-)Kino ist „Last Day On Earth“. Da ich in diesem Jahr mit dem Verlust eines nahestehenden Verwandten fertig werden musste, bekommt dieser ergreifende und gleichzeitig eingängige Song für mich eine ganz besondere Qualität. One of these days you’ll understand no one stays forever / but being sad is not that bad – Textzeilen wie diese sind es, die das Identifikationspotential dieser Platte in unmessbare Dimensionen schnellen lassen. Wenn ich spontan den stärksten Song dieses Jahres bestimmen müsste, dann wäre es wohl dieser.
Überhaupt: neben der tollen Produktion und den pfiffigen Arrangements sind es eben auch die Texte, die „A Worthy Compensation“ hervorheben. Markant und gefühlvoll vorgetragen von Stefan Netschio ist dieses Album so manches Mal Gänsehautgarant. Bei „Terribly Wrong“ sehe ich künftiges Konzertpublikum schon vor meinem geistigen Auge frenetisch feiern und mitsingen. Dass „A Worthy Compensation“ diverse Hymnen an Bord hat, erwähnte ich schon? Oh, und dann ist da ja noch „Who Watches The Watchmen“. Nicht nur inhaltlich ein ziemlich Knüller. Schon mal eine Beziehung geführt, die daran zerbrochen ist, dass einer der Beteiligten seelischen Ballast mit sich herumschleppte, die einer professionellen Behandlung bedurfte? Es aber eventuell an der entsprechenden Einsicht fehlte? Irgendwann jedoch Kraft und Verständnis nachließen, immerzu den Schubs in die entsprechende Richtung zu geben? Ja? Dann wirst du dich in „Who Watches The Watchmen“ vermutlich bestens hineinversetzen können. Ferner ist es zum Schluss noch mal ein gelungenes Beispiel dafür, wie man Synthie-Pop fit macht für das Jahr 2015. Ja richtig, wir hören hier Spurenelemente von Dubstep. Bekanntes Geknarze bzw. die altbekannten Glitches, ja sicher, aber cleverer Weise ohne die typischen Drops. Ein krönender Abschluss eines großen Albums.
Beborn Beton sagen über „A Worthy Compensation“, dass es sich hierbei möglicherweise um das beste Album handelt, das sie jemals gemacht haben werden. Vielleicht ist das so, vielleicht ist da aber auch noch Luft nach oben. Vielleicht ist da noch mehr kreatives Potential, das in ihnen schlummert und vielleicht weitere sieben Jahre braucht, um zu reifen. Wer weiß das heute schon. Es ist verdammt schwer, bei der aktuell vorliegenden Großtat von einem Album nicht permanent mit Superlativen um sich zu werfen. Deshalb fasse ich mich abschließend kurz: Produktion, Arrangements, Songwriting, Gesang – hier stimmt von der ersten bis zur letzten Minute einfach alles. Solltet Ihr in diesem Jahr nur ein einziges Album kaufen können oder wollen, dann sollte es „A Worthy Compensation“ sein. Beste Langzeitunterhaltung ist da schon im Preis mit drin.
Zu den Dingen, die ich in diesem Leben wohl nicht mehr selbst mitbekommen werde, gehört wohl auch zu erfahren, wie das so ist, wenn man Musik in sich trägt. Wenn man aus einer Idee oder Laune heraus anfängt, Songs zu schreiben und die Stück für Stück, nach ewiger Frickelei, Gestalt annehmen. Umso dankbarer bin ich oftmals, wenn ich als Konsument an dem fertigen Produkt teilhaben darf. Ein bisschen was von den zugrunde liegenden Gedanken und Gefühlen aufschnappen und mich meinen eigenen hingeben kann. Vor allem und ganz besonders dankbar bin ich stets dann, wenn es sich dabei um ein Produkt von solch erlesener Güte wie „A Worthy Compensation“ handelt. Nicht nur, dass Beborn Beton das überraschendste und gelungenste Comeback des Jahres geglückt ist, nö, das Resultat ihrer jahrelangen Fleißarbeit ist zudem das definitive Synthie-Pop-Album des Jahres 2015! Besser war es bisher nicht, besser wird es wohl auch nicht mehr werden. Ich bin mir sicher: irgendwann in ferner Zukunft werden Connaisseur*innen zusammensitzen und philosophieren und dann werden sie sagen: weißt du noch damals, in der Mitte der Zehner-Jahre … dieses „A Worthy Compensation“. Das war ein Fest!