Es gibt Geschichten, die zu wahr sind und zu schauerlich, als dass sie sich ein*e Horrorautor*in jemals ausdenken könnte. Die gleichwohl aber seit ihrem realen Geschehen die Fantasie der Menschen beflügeln. Ein in den letzten Jahren wieder vermehrt populär gewordenes Beispiel hierfür ist die Franklin-Expedition. Es war dies die „dritte und letzte große Forschungsreise des britischen Polarforschers Sir John Franklin. Ihr Ziel war es, die Nordwestpassage erstmals, und zwar von Ost nach West, vollständig zu durchsegeln, kartografisch zu erfassen und so einen kürzeren Seeweg von Europa nach Asien zu finden“. So erklärt es die Wikipedia. Die Franklin-Expedition war ein kolossaler Fehlschlag; in den Jahren 1845 – 1848 starben alle Expeditionsteilnehmer im ewigen Eis. Weder Franklin noch einer der anderen Männer überlebte dieses Unterfangen, die Wracks der beteiligten Schiffe HMS Erebus und HMS Terror fand man erst über 100 Jahre später.
Zusammen mit Spuren, die sehr nahelegten, dass die letzten Überlebenden in ihrer Not sogar Kannibalismus betrieben haben müssen. Auch das rettete die 129 Seelen nicht.
Die Expedition beziehungsweise ihr Schicksal beschäftigte Öffentlichkeit und Medien seinerzeit sehr und das Interesse am Scheitern und Sterben der Expeditionsteilnehmer verebbte nie so richtig. Aufwind bekam das Thema in der jüngeren Vergangenheit durch die Veröffentlichung des Schauerromans „Terror“ von Dan Simmons, welcher 2018 als Serie für Amazon sehenswert umgesetzt wurde. „Terror“ ist auch der Name des jüngst veröffentlichten Mammutwerks der Ausnahmeband Janus, von dem sich mit Fug und Recht behaupten lässt: Ein Epos wie dieses wird man zumindest in diesem Jahr kein zweites Jahr zu hören bekommen.
Je länger die Band Janus am Start ist, um die Welt mit ihrer Mischung aus, man möchte schon fast sagen: ernsten Musik und Doom Metal zu bereichern, umso weniger scheinen Dirk „RIG“ Riegert und Tobias „Tobi“ Hahn gewillt zu sein, sich auch nur auf den kleinsten Kompromiss einzulassen. Schon die letzten Veröffentlichungen „Ein schwacher Trost“ (2017), „Totes Land“ (2019) und „Der lange Weg zurück“ (2020) zeigten sehr deutlich: ganz oder gar nicht, und wenn ganz, dann nicht weniger als alles und das bis zum Anschlag ist das Motto im Hause Janus. Leicht verdaulich war die Musik des Duos noch nie, doch je länger die Band existiert, umso mehr scheinen sie Grenzen, Konventionen und Erwartungen sprengen zu wollen. Immer noch eine Schippe draufpacken zu wollen auf die ohnehin schon enorm hohen Erwartungen an die Band. Vielleicht auch, die beiden Seiten der Band – die ruhige und die krawallige – zusammenzuführen. Thematisch, textlich und musikalisch. Mit „Terror“ erreicht dieses Unterfangen einen neuerlichen bisherigen Höhepunkt. Ein paar Eckdaten zur Unterstreichung dieser Aussage.
Ein einziges, 31-minütiges Lied = das Album
„Terror“ besteht aus nur einem einzigen Lied, dieses dauert dafür aber auch rund 31 Minuten. Einhundert mitwirkende Musiker*innen, darunter welche des MDR Rundfunkorchesters, die Brandenburgische Staatskapelle unter der Leitung von Bernd Ruf, Helen Jahn an der singenden Säge sowie die Schauspielerin Antje von der Ahe in der Rolle der Jane Franklin. Das zum musikalischen Teil. Überdies begleitet die limitierten physischen Varianten des Albums ein nicht weniger als 80 Seiten starkes Hardcover-Buch, das unter anderem eine 56-seitige Graphic Novel beinhaltet, die von RIG geschrieben und von der Künstlerin Helena Masellis gezeichnet wurde. Kein Aufwand, keine Mühen wurden gescheut, um ein in jeder Hinsicht überwältigendes Erlebnis zu schaffen. Wenn man bedenkt, dass zwischendurch auch noch diese behämmerte Pandemie ausgebrochen ist, wird die Leistung nur noch umso eindrucksvoller.
Zusammen mit der Graphic Novel ein audiovisuelles, überragendes Meisterwerk
Dieses Album behandelt natürlich die Geschichte der gescheiterten Franklin-Expedition – und gibt sich zwischen orchestralen Passagen im Breitbildformat, zwischen brachialstem Metal-Gewitter, verhaltenen elektronischen Spielereien und vielen Details alle Mühe, die Kälte des ewigen Eises spürbar zu machen. Ihr diesen unheimlichen Touch zu verleihen, der sich förmlich aufdrängt. Hörer*innen eisig kalte Schauer den Rücken herunter zu jagen, sie zu stummen Zeugen einer Tragödie zu machen, bei der man sich durchaus fragen darf, ob da in den langen dunklen und eisigen Wintern, in denen die HMS Erebus und die HMS Terror ihrem Schicksal entgegensteuerten, nicht doch etwas in dem Eismeer unterhalb des jeweiligen Schiffsrumpfes lauerte. Etwas, das nur allzu gerne die unglückseligen Seeleute verschlingen wollen würde. Oder ob in dem Schneegestöber nicht doch noch etwas anderes tanzt und frohlockt ob der zu erwartenden Fleischesbeute. Es macht den Wahnsinn, den Terror, den die armen Seelen erlebt haben müssen, vorstellbar. Es passt ins Konzept der Band, in ihren Liedern oft von Menschen zu erzählen, die auf die ein oder andere Weise den Verstand verlieren. Ein metallisches Brett wie selten eins, ein schauerliches Hörspiel und Kino für den Kopf.
Zwischen orchestralen Passagen und brachialstem Metal-Gewitter
„Terror“ war dereinst als Lied für das Album „All die Geister“, das uns Janus noch schuldig sind, geplant – entwickelte aber im Laufe des Entstehungsprozesses förmlich ein Eigenleben. Zunächst sei es am Flügel komponiert worden, lässt das Duo auf der eigenen Webseite wissen, später kamen zu den bereits genannten Mitwirkenden unter anderem noch der Komponist Tilman Sillescu hinzu, der die Arrangements für das Orchester schrieb. Dass Herr Sillescus Arbeiten ganz hervorragend zu den Visionen von Tobi und RIG passt, war schon bei „Der lange Weg zurück“ zu erleben. Wenn RIG den Toten mit seinem Geschrei eine Stimme gibt, ihre Verzweiflung ins Eis hinaus brüllt, wenn das knackende Packeis förmlich spürbar wird, wie es die Schiffe fest umklammert und wie eine Faust zerquetschen wollen würde, wenn es nur könnte, wenn man zeitgleich in den sensationellen Zeichnungen von Helena Masellis blättert, passiert diese Raum- und Zeitverschiebung, die nur ganz wenigen Alben gelingt. Dann ist man mittendrin, nicht nur dabei. Die Hingabe, die Akribie, die Leidenschaft aller Beteiligten für dieses in jeder Hinsicht große und großartige Projekt ist in sämtlichen Bestandteilen deutlich spürbar. In jeder auf den Punkt genau gesetzten Note, in jedem Pinselstrich der Graphic Novel. Daniel Dreßler, Betreiber des von mir geschätzten Blogs Unter-Ton, brachte es kürzlich in einer Konversation treffend auf den Punkt: Richard Wagner war dagegen Minimalist. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen, außer: Dieses Album gehört zu den Alben, die man 2021 gehört haben muss!
„Terror“ ist eines dieser wenigen, ganz besonderen Alben, die ich einerseits zwar über alle Maßen bestaune – und die andererseits dafür sorgen, dass ich mich irgendwie klein und dumm fühle. So als würde mir eine Windung im Hirn fehlen, um diese Großtat in all seinen Facetten wirklich zu erfassen. Nicht nur habe ich das Gefühl, dass mein Wortschatz nicht groß genug ist, um zu beschreiben, welches musikalisches Monster hier nach den Hörer*innen greift, nein, viel mehr überkommt mich das Gefühl, dass manche Adjektive noch nicht ersonnen wurden. Was ich aber sagen kann, ist: „Terror“ ist alle Mühen, die Tobi und RIG im Vorfeld mit diesem Biest hatten, wert gewesen. Es ist der bisherige Magnum Opus der Band, die in der Vergangenheit regelmäßig die Maßstäbe weit nach oben verschoben hat. Ein gelungener Spagat zwischen (Neo-)Klassik und Metal. Eine Moritat, Kino für den Kopf, ein Erlebnis! Von der Idee, dem Konzept, zur Ausführung und Umsetzung bis zu den Extras wie dem begleitenden Comic – es ist nicht weniger als ein Meisterwerk, das seinesgleichen sucht. Allerdings reden wir hier auch von Janus und man darf davon ausgehen, dass sie irgendwann, eines fernen Tages, wenn „Terror“ verdaut ist, wieder mit einem Album um die Ecke kommen werden, das die Maßstäbe erneut verschiebt und Janus immer weiter außerhalb jedes Vergleichs mit anderen Bands oder Künstler*innen bewegt. Bis es so weit ist, überlege ich mir noch ein paar neue Superlative, die bisherigen sind hiermit aufgebraucht.