Vermutlich säße ich heute nicht um kurz nach 5 Uhr morgens hier und würde meine Gedanken zu einem „Spider-Man“-Comic auf virtuelles Papier bringen, wenn mir meine Eltern Damals™️ nicht das ein oder andere „Die Spinne“-Comic-Taschenbuch aus dem Condor Verlag gekauft hätten, die mein kindliches Ich damals mit großer Neugier und großem Interesse verschlungen hat. Und zwar so oft und immer wieder, bis sich die Seiten lösten und die Büchlein eher als eine Art Lose-Blatt-Sammlung betrachtet werden mussten. Ein paar dieser Bücher habe ich heute noch irgendwo herumstehen. Gelegentlich blättere ich noch darin herum, amüsiere mich über die wirklich akribische Verwendung des Wortes Spinne anstelle von Spider-Man und ein seltsames „früher war alles besser“-Gefühl überkommt mich. 2002 veröffentlichten Jeph Loeb (u. a. „Batman: Hush“) und der 2022 verstorbene Tim Sale (u. a. „Batman. The Long Halloween“, zusammen mit Loeb) im Zuge ihres Spider-Man Runs für Marvel die sechsteilige Serie „Spider-Man: Blue“. Eine Geschichte, die sich in Inhalt und Form (sprich: Zeichnungen) an den Klassikern von Stan Lee und John Romita Sr. aus Mitte der 1960er-Jahre orientierte. In wenigen Tagen erscheint bei Panini Comics „Marvel Must-Have – Spider-Man – Blue“. Und wer diese wunderbare Geschichte bisher nicht kennt oder immer verpasst hat, bekommt nun dank dieser Neuauflage erneute Gelegenheit dazu, sich eine wunderbar herzerwärmende Portion Nostalgie ins Haus zu holen. Empfehlung direkt schon vorab: Gönnt Euch!
„Spider-Man: Blue“ trägt trotz all der Superschurkenklopperei, die einfach obligatorisch zu sein scheint, eine überraschend leise Geschichte vor. Im Prinzip erzählt Peter Parker, längst mit Mary-Jane Watson liiert, in nächtlich aufgenommenen Tonbandaufzeichnungen, wie er seine erste große Liebe, Gwen Stacy, kennenlernte. Gwen ist tot, sie wird die Tonbandaufnahmen also niemals zu hören bekommen. Es ist dies mehr ein selbst-therapeutischer Versuch, die Seele von etwas Ballast zu befreien und Gwen all die Dinge zu sagen, die Peter ihr gerne gesagt hätte und wofür es jedoch für immer zu spät ist. Wer schon mal einen geliebten Menschen zu Grabe getragen hat, schlimmstenfalls, nachdem dieser Mensch unerwartet aus dem Leben geschieden ist, hat sich möglicherweise schon ähnlicher Dinge bedient, um mit dem Schmerz und dem Verlust zurechtzukommen. Ein anderes, immer wieder gerne genommenes Mittel in solchen Situationen ist das Schreiben von Briefen.
Im Laufe der Handlung, in der aus dem Bücherwurm Peter Parker ein erwachsener Mann wird, der nicht nur bei seiner Tante May aus- und mit seinem Kumpel Harry Osborne zusammenzieht und sich ein Motorrad kauft, erleben wir jede Menge klassischer Schurken: Der grüne Kobold hat hier einen Auftritt, Rhino auch, wir werden Zeuge davon, wie sich direkt zwei Vultures gegenseitig die Flügel stutzen wollen und dann darf auch noch Kraven der Jäger, der gerade im Videospiel „Marvel’s Spider-Man 2“ einen denkwürdigen Auftritt hatte, seine fünf Minuten des Ruhms einkassieren. Das Versohlen superschurkischer Hintern ist allerdings nur schmückendes Beiwerk. Schließlich soll niemand vergessen, dass es sich hier immer noch um einen Superheldencomic handelt, bei dem es einfach dazugehört, dass irgendwer aus seiner Spandex-Buchse getreten wird.
Vermutlich würde die Geschichte, deren Beinamen „Blue“ sich auf gedrückte, wehmütige Stimmungen bezieht, die uns vermutlich allen auf die eine oder andere Weise vertraut ist, auch gut funktionieren, wäre sie nicht innerhalb eines Superheldencomics eingebettet. Ein junger Mann, der ein Auge auf eine Frau geworfen hat und dessen Schwärmerei dadurch ins Wanken gerät, dass plötzlich eine andere in sein Leben knallt, funktioniert genauso universell wie die Konkurrenz zweier Männer, die Gefahr laufen, sich für die gleiche Frau zu interessieren und sie zu umwerben. Oder der Auszug aus dem Elternhaus (in diesem Fall: Peters Auszug aus dem Haus von Tante May), der Erwerb eines Motorrads und die damit verbundene Kostprobe des Gefühls von großer Freiheit, Ankommen im Erwachsenenleben und der tägliche Kampf ums Überleben im Kleinen (hier: dem Nachrennen nach dem Gehalt) – all das wird toll, einfühlsam und so gekonnt erzählt, dass es einem nicht nur ein bisschen warm (und ja, angesichts der Gründe für Peters Aufzeichnungen auch blue) ums Herz wird. Es fühlt sich auch einfach so an, wie einen Comic aus der Stan Lee-/John Romita Sr.-Ära zu lesen. Oder wie als Stöpsel in Condor Taschenbüchern zu blättern.
Die Bilder, die sich bewusst an denen von damals orientieren, tragen ebenfalls sehr viel dazu bei. Alles an der Optik des Comics schreit einem förmlich das Wort „klassisch“ entgegen: Von der einfach gehaltenen Strichführung der Zeichnungen und der nicht minder sehr einfachen, sehr flächigen und null plastischen Farbgebung bis hin zu der rechteckigen bzw. quadratischen Aufteilung der Panels. Als sich Loeb und Sale damals ans Werk machten, scheinen sie im Vorfeld die Klassiker jedenfalls außerordentlich gründlich studiert zu haben. Eine Mühe, die sich in jedem Fall gelohnt hat. Heutige Comics rund um den Wandkrabbler (oder den neuen, zweiten Spider-Man Miles Morales) sind im Vergleich (wie etwa zum ebenfalls kürzlich erschienenen Band „Miles Morales: Spider-Man (Im Visier)“) sehr hektisch, beinahe schon überfrachtet und irgendwie … laut?! Es fällt mir kein anderes Wort dafür ein. „Spider-Man: Blue“ hingegen lässt zwischen den Panels genügend Möglichkeiten, dass sich die Geschichte entfalten, jede*r einzelne Charakter*in entwickeln kann und sich Lesende gänzlich von der Stimmung des Comics einhüllen lassen können. In immer hektischer und unübersichtlicher werden Zeiten beinahe schon eine Wohltat.
„Spider-Man: Blue“ veröffentlichte Panini bereits 2011 das erste Mal in Deutschland. Mittlerweile natürlich längst ausverkauft. Die Wiederveröffentlichung in der „Marvel Must Have“-Reihe passt wie der sprichwörtliche Arsch auf Eimer, denn genau das ist es: ein Must-have. Quasi eine wunderbare, nostalgische und zu Herzen gehende Geschichte der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft. John Romita Sr. schrieb im Vorwort, dass er zu Tränen gerührt gewesen sei und auch wir, die wir diese Story lesen, zutiefst berührt sein werden. Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.