Der amerikanische Comicverlag Marvel – oder auch das Haus der Ideen genannt – hat in den gut 85 Jahren seines Bestehens zahllose Figuren hervorgebracht, meist eine schillernder und aufregender als die andere. Und nicht zuletzt durch den teilweise enormen Erfolg an den Kinokassen sind Charaktere wie Dr. Strange, Black Widow oder Ant-Man einem Publikum bekannt, das weit über die im Vergleich eingeschränkte Zielgruppe von Comiclesenden hinausgeht. Aber nicht jede Figur, die von den Kreativen bei Marvel ersonnen wurde, war auch ein Strahlemann mit ausgeprägten Saubermann-Image wie Spider-Man oder dem urpatriotischen Captain America. Aus Marvels Druckereien kamen auch Anti-Helden, die mit den üblichen Spielregeln brachen.
So war es beispielsweise Gesetz, dass Helden nicht töten. Die bis dato üblichen Konventionen interessierten einen Charakter wie Frank Castle, weithin bekannt als der Punisher, nicht. Dessen Markenzeichen war die brutale Anwendung roher Gewalt. Wer sich den Punisher zum Feind gemacht hatte, musste mit baldigem Ableben rechnen. Oder anders: Der Punisher ballerte sich durch Horden von Gegnern und stellte hinterher Fragen. Wenn überhaupt. Das kann man gut finden oder schlecht, aber vermutlich trug eine Figur wie Punisher dazu bei, dass sich Verlage der auferlegten Selbstzensur entledigten. Nun feiert der Punisher in diesem Jahr sein 50. Jubiläum. Frank Castle hat in der Zeit also schon ein paar sehr bemerkenswerte Geschichten auf den schwarzen Anzug mit dem weißen Totenkopfsymbol geschrieben bekommen. Und wer sich für die Figur interessiert, steht möglicherweise vor der Frage: womit anfangen? Welche Geschichte eignet sich als Einstieg, um die Figur Punisher kennenzulernen? Eine Antwort darauf liefert die jüngst von Panini Comics veröffentlichte Anthologie „Punisher: Bestrafer und Vollstrecker“. Und noch einiges mehr.
Als Frank Castle in den 70er-Jahren als Gegenspieler von Spider-Man auf der Bildfläche auftauchte, war der sogenannte Comic Code noch ein großes Thema. 1954 wurde im Rahmen der Selbstkontrolle von der Comics Magazine Association of America, einer Vereinigung der US-amerikanischen Comicverleger, eine Liste von Inhalten erstellt, die in Comics nicht stattzufinden hatten. Dieser Comic Code war eine Reaktion auf Proteste von Elternverbänden, Lehrer*innen und Politiker*innen gegen Comics, öffentliche Kundgebungen inklusive. Wie so oft, wenn eine Generation die Themen der ihnen nachfolgenden Generation nicht versteht (oder verstehen will), sah man in den bunten Bildern die Auslöser für die zunehmende Abgestumpftheit der Jugend sowie ihren angeblichen moralischen Verfall und Sittenlosigkeit. Zum Glück hatte man nur kurz danach den Rock’n’Roll und somit jede Menge neues Schuldzuweisungspotenzial. Wo kämen wir denn auch sonst hin, wenn man sich für die Themen der Jugend interessierte? Wer Ironie oder Sarkasmus in den letzten beiden Sätzen findet, kann ihn gern behalten.
Den Comic Code gibt es seit 2011 nicht mehr und ich bin versucht zu schreiben: erst seit 2011 nicht mehr. Deren, ich nenne es mal vorsichtig, Verbotsliste hatte sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter abgeschwächt. Aber ursprünglich war es dank der Selbstzensur der Verlage, zu der sich Marvel und auch der große Mitbewerber im Strumpfhosensegment, DC, verpflichtet sahen, nicht schicklich (und somit nicht gestattet), Nacktheit zu zeigen oder Worte wie Horror und Terror als Namensbestandteil zu nutzen. Weiterhin war es nicht erlaubt, Sympathie für Verbrecher oder die Methoden und die Ausführung eines Verbrechens zu zeigen. Auch durften Drogenkonsum, Homosexualität, Scheidungen oder Flüche nicht in Comics stattfinden. Comics mussten zudem der Comics Code Authority zur Prüfung vorgelegt werden und erst wenn die der Meinung waren, das passt so, gab es ein entsprechendes Siegel und ein Heft konnte in Umlauf gebracht werden. Zeitweilig stand es ein einigen Teilen der USA unter Strafe, ungeprüfte Comics zu verkaufen. In eine solche Welt also platzt eine Figur wie der Punisher, dessen Markenzeichen es ist, mit roher Waffengewalt seine Gegner über den Jordan zu befördern. Während ein Spider-Man seine Gegner in Netze eingesponnen der Polizei zur Sicherheitsverwahrung überließ, waren und sind es beim Punisher Leichensäcke.
Die von Panini zusammengestellte Anthologie ist ein buchstäblich dickes Ding. Ein Hardcover-Buch mit einem Umfang von 324 Seiten. Darin enthalten nicht nur der allererste Auftritt des Punishers, sondern ein paar der bemerkenswertesten Geschichten des grimmigen Richters, Geschworenen und Henkers in Personalunion. Ein wenig liest sich die Inhaltsangabe der Beteiligten wie ein Stelldichein einiger der berühmtesten Kreativen in der Comicgeschichte. Frank Miller (hat mit „The Dark Knight Returns“ Comicgeschichte geschrieben und den Batman-Mythos neu erfunden), Jim Lee (unter anderem Mitgründer des revolutionären Verlags Image Comics), Garth Ennis (Schöpfer von „Preacher“ und natürlich „The Boys“) – es gab in der Vergangenheit zahlreiche wirklich sehr begabte Storyteller, die dem Punisher ihren Stempel aufdrückten und einer zunächst sehr eindimensionalen Figur immer weitere Facetten verliehen.
Bemerkenswert an dieser mit großer Sorgfalt und Hingabe zusammengestellten Anthologie ist, dass die Leute bei Panini nicht nur ein paar Geschichten, die von den Anfängen bis zu den Beiträgen im Rahmen von Marvel Knights und Marvel MAX reichen, zwischen zwei Buchdeckeln packten. Vielmehr ist jede Story, die in diesem Buch abgedruckt wurde, mit einem Vorwort versehen, das ein paar Hintergründe erläutert und das jeweilige Geschehen auch in den historischen Kontext einordnet. Das macht dieses Buch zu einer spannenden Geschichtsstunde, ganz unabhängig davon, dass die Wahl der Storys definitiv als gelungen betrachtet werden muss. Überdies gibt es noch weitere Hintergrundinformationen, etwa wann sich der Punisher mit wem zusammengetan hat und warum, sowie auch eine kleine Galerie mit Cover-Motiven.
Viele Geschichten spannen einen Bogen auf, der im Rahmen dieses Buches nicht geschlossen wird. Kann auch nicht sein, sonst hätte dieses Buch wohl den doppelten bis dreifachen Umfang. Aber diese Anthologie ist ein ganz hervorragender Ausgangspunkt für weitere Punisher-Lektüre. Einige Geschichten, die hier angerissen werden, hat Panini im Rahmen der „Marvel Must-Have“-Reihe veröffentlicht. Zu Recht übrigens in diesem Format. Und so möchte ich die Vorstellung dieses Buches schließen mit der Feststellung, dass „Punisher: Bestrafer und Vollstrecker – Die Punisher Anthologie“ eine wirklich sehr lohnenswerte Anschaffung ist für alle, die sich für den Punisher interessieren, aber bis dato nicht wussten, womit sie in seine Welt einsteigen wollen. Aber auch für alle, die schon in der grausamen Welt des Punishers unterwegs sind und sich weiteres Wissen aneignen wollen. Und dieser massive Umfang zu einem Preis von 35 Euro auf den Markt gebracht, ist mehr als fair.