Früher war es sicher einfacher, Science-Fiction-Dystopien zu erschaffen. Was auch immer sich kreative Köpfe ausdenken, wie die Welt der Zukunft aussehen könnte – der Mensch gibt sich alle Mühe, im Sauseschritt irgendwie alles, was sein kann, umzusetzen. Während Zuschauer*innen in den 1980ern ehrfürchtig beim Anblick von todbringenden Terminatoren im Kinosessel immer kleiner wurden, ist es heute mitunter kaum noch eine Randnotiz, dass beim Militär immer mehr in Richtung autonom agierender und kämpfender Systeme geforscht und gebastelt wird. Als Orwell damals sein Wahnsinnsbuch „1984“ vorstellte, war nicht abzusehen, dass nur ein gutes halbes Jahrhundert später die totale Überwachung ziemlich allgegenwärtig geworden ist – und sich die Menschen wie Lemminge in Form sozialer Netze höchst freiwillig dahin hineinbegeben. Ende der 1990er waren Cyberspace und wild gewordene künstliche Intelligenzen noch der Stoff, aus dem unterhaltsame Hollywood-Blockbuster wie Matrix gestrickt wurden. Heute warnt unter anderem Tesla-Boss Elon Musk ziemlich eindringlich vor den Gefahren künstlicher Intelligenz. Und dass wir keine zwei Jahrhunderte nach der industriellen Revolution (welt-)politisch und klimatisch nicht mehr weit davon entfernt sind von dem, was ich mit „total am Arsch“ wohlwollend umschreiben würde, das hätten sich selbst wahnwitzigste Autor*innen nicht erdenken können.
Also wie gesagt – Dystopien als Warnsignal zu schaffen, war früher einfacher. Dennoch gibt es immer wieder quer durch alle Medien dystopische Science-Fiction, die unterhalten, vielleicht auch die Nachdenk-Keule vor den Latz ballern will. Videospiele, Filme, Bücher, Comics sind klassische Vertreter. In der Musik jedoch ist das eher untypisch. Dann und wann gibt es vielleicht mal ein Konzeptalbum, weil sich eine Band oder ein*e Künstler*in denkt, hey, lass uns doch mal was anderes machen. Anders sieht es bei dem österreichischen Projekt mind.in.a.box aus. Im Jahre 2002 öffneten sie das erste Mal die Verbindung zum Dreamweb und entführten ihre Hörer*innen in eine Welt, die ihre Inspiration in Werken wie dem besagten Matrix oder Spielen wie der Deus-Ex-Reihe zu haben scheint. Und schufen damit quasi aus dem Stand eine Nische für sich, die weder inhaltlich noch musikalisch je eine andere Band in dieser Konsequenz und Vollendung besetzte. Zwei Jahre, nachdem die Ports zum Dreamweb zuletzt geöffnet wurden, erscheint nun „Broken Legacies“. Ist es Stefan Poiss erneut gelungen, ein fesselndes Werk zu schaffen, das den guten Ruf untermauert? Rhetorische Frage.
„Broken Legacies“ ist das nunmehr siebte Album, das aus dem Dreamweb in die real world heruntergeladen wurde. Dabei muss allerdings „R.E.T.R.O.“ aus dem Jahr 2010 ausgeklammert werden, schließlich handelte sich dabei lediglich um eine Huldigung von Soundtracks diverser Computerspielklassiker der C64-Ära, wie sie beispielsweise ein Chris Hülsbeck damals erschaffen hat. „R.E.T.R.O.“ hat inhaltlich mit der Erzählung, die dereinst vom Wiener Schriftsteller Andreas Gruber zum Konzept beigetragen wurden, nichts zu tun und steht für sich allein. Das letzte reguläre Album „Memories“ endete quasi mit einer Art Patt-Situation. Das Dreamweb und die Sleepwalker standen vor der Auslöschung durch die Agency und ihre Men in Black. Wer noch einmal nachlesen möchte, was im Laufe der Zeit (sprich: der Alben) in der Welt von mind.in.a.box passiert ist, findet bei Wikipedia eine hübsche Zusammenfassung der Geschehnisse. „Broken Legacies“ setzt die Geschichte jedoch nicht etwa fort, sondern nimmt seine Hörer*innen mit zurück zum Anfang. Und noch weiter zurück. „Broken Legacies“ ist der Beginn der Saga, der dennoch diverse Handlungselemente, die im Laufe der Jahre eingeführt wurden, zusammenbringt. Aus dem Hause mind.in.a.box selbst heißt es bezüglich des neuen Albums:
„Nach zwei Jahren veröffentlichen mind.in.a.box den nächsten Teil ihrer Geschichte. Das Album „Broken Legacies“ stellt das sechste Kapitel der fortführenden Cyberpunk-Saga dar.
„Broken Legacies“ geht 20 Jahre zurück zu jener Zeit, als The Friend das System kreierte. Das Album beleuchtet mehrere wichtige Elemente vergangener Erzählungen inklusive der Trennung von The Friend mit der Agency und wie er sich schlussendlich den Rebellen anschloss und das Dreamweb erschuf.“
Da diese Review vor Veröffentlichung des Albums erscheint, möchte ich zur Handlung gar nicht mehr erzählen, um Euch nicht zu spoilern. Einzig folgende Anmerkung sei dazu noch gestattet: „Broken Legacies“ ist randvoll mit wunderbaren Aha-Erlebnissen, die das bisherige Schaffen inhaltlich abrunden und komplettieren. Schöner Nebeneffekt: wer erst jetzt dazuschaltet, bekommt nicht einfach eine weitere Episode serviert, sondern den perfekten Einstieg ins Dreamweb. Dem hemmungslosen Binge-Listening steht damit nichts mehr im Wege.
Eingeleitet wird das Album mit „Evasion“. Zwar hat die Nummer eine Laufzeit von mehr als vier Minuten, dennoch ist „Evasion“ mehr als Intro zu verstehen. Zu den vertrauten, weitläufigen synthetischen Klängen ertönt eine verfremdete Stimme und führt uns hinein in die nicht näher benannte Zukunft, die uns schon jetzt so nahe ist. Super-computing psycho-social control. A single system running planetwide experiments. It vexes me. I’ve got to tear the structure down. I created it. If only I knew how I could destroy it. Gerade kommt mir wieder die Warnung vor künstlicher Intelligenz in den Sinn. Interessant an diesem gelungenen Einstieg ist auch, dass Stefan Poiss ganz offenbar einmal mehr einen neuen Weg gefunden hat, seine Stimme zu verfremden.
„Overwrite“ erinnert musikalisch an frühere musikalische Großtaten der Band wie etwa „Change“ oder „Loyalty“. Die Art und Weise, wie die Stimme hier zu uns singt, wirkt so vertraut, dass die Verbindung zum Dreamweb spätestens jetzt hergestellt ist. Ansonsten passt die Nummer in den aktuellen Blade Runner-Hype und in die Frage des zugrunde liegenden Buches von Philip K. Dick, „Träumen Androiden von elektronischen Schafen?“. I have an error in my soul. It begs to be free. But my programming is who I am. Conformity is the key. Darüber hinaus: wer sich in dieser Welt und seinem Leben fragt, ob das schon alles ist, wird sich in diesem Song womöglich sehr verstanden fühlen.
Musikalische Science-Fiction im Breitbildformat
Um nicht jeden Song im Detail zu sezieren, noch ein paar Highlights dieser an Highlights wirklich nicht armen Platte. „Coming Down“ ist so eingängig, dass ich dem Song baden möchte, spart aber dennoch nicht an großen Melodiebögen. Definitiv eine der bisher stärksten Nummern, die mind.in.a.box dem Dreamweb entlocken konnten! „Icebox“ hingegen tönt nicht an sperrigen Drum-Konstrukten, die sich immer wieder vor diesen einnehmenden Melodien schieben. Ziemlich adrenalinfördernd, dieser Song, und wer an Bleifuß leidet, hört das besser nicht beim Autofahren. „Attack“ spielt geschickt mit Trance-Elementen und hat so unfassbar große Momente, dass, wenn „Broken Legacies“ ein Film geworden wäre, es ein Blockbuster mit gigantischem Budget hätte werden müssen, um den Bildern, die dieser Song und das Album überhaupt in mein Hirn projiziert, gerecht zu werden. Wahnsinn!
Hach, und dann ist da „Glory Days“. Ziemlich chillige Angelegenheit – und ebenfalls einer der Songs, die ich zu den absoluten Knüllern überhaupt zählen würde. Ein Paradebeispiel dafür, dass wir bei mind.in.a.box eben niemals wissen, was beim nächsten Song zu erwarten ist. Wenn der Refrain ertönt und Stefan mit weitgehend unverfremdeter Stimme singt: In those Moments I run / Like the sane man I am / Like the lion from the lamb / In those Moments I run und man dabei die Augen schließt, dann ist die Chance hoch, dass man gerade die Wirklichkeit verlässt. Knapp über fünf Minuten läuft der Song, aber er hätte gut und gerne noch einmal genauso lang sein dürfen. Vielleicht kommt da ja mal eine Extended-Version. 20 Minuten fände ich ja angemessen. „Arcade“ kann seine FuturePop-Wurzeln nicht leugnen. Was soll ich sagen? So geht das im Jahr 2017! „Paranoia“ ist auch so ein unheimlich fesselnder Song, der in den Refrains reinstes Breitbildkino entfacht. Ist das noch mind.in.a.box oder habe ich doch die blaue Pille genommen und bin endgültig im System abgetaucht? Und mit dem düsteren „Commmand: Decode“ schließt sich der Kreis und die Anknüpfung an die bisherigen Erzählungen ist geglückt. Wer „Tape Evidence“ vom 2005er-Album „Dreamweb“ gerne gehört hat, wird sich hier ganz schnell sehr wohl fühlen. Was für ein Abschluss!
Dabei übrigens so gelungen, dass das Intro, wenn man das Album in Dauerschleife hört (und das werdet Ihr ganz sicher), nahtlos daran anknüpft. Es gibt eben kein Entkommen aus dem System. Aber wenn die Unterhaltung auf einem derart hohen Niveau ist, tja … dann kann mich die Agency gerne bei sich behalten.
Es gibt nur wenige Bands, an deren Veröffentlichungen ich stets eine derart hohe Erwartung an den Tag lege, wie es bei mind.in.a.box der Fall ist. Einfach, weil Stefan Poiss bisher immer geliefert hat. Jedes Mal, wenn ein neues Album sein Haus verlässt, denke ich mir: na? Hat er es dieses Mal wieder geschafft? Oder ist das jetzt vielleicht mal nicht ganz sooo gut geworden? Im Falle von „Broken Legacies“ hat er es jedenfalls definitiv wieder geschafft. Ich habe keine Ahnung, woher der Mann (und seine Kollegen) die schier unerschöpfliche Kreativität bezieht. Ich meine, da ist ja schließlich auch noch sein Nebenprojekt Thyx, mit dem er regelmäßig neues Material veröffentlicht. Möglicherweise zapft er sein selbst geschaffenes Dreamweb einfach selbst an.
Was auch immer der Grund sein mag – ich hoffe, die Quelle versiegt nicht. „Broken Legacies“ ist die Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft von mind.in.a.box, sein bisher größter Knüller. Ich ertappte mich ein ums andere Mal dabei zu denken: wie geil ist das denn bitte?! Dass die Produktion noch ausgefeilter und dynamischer wirkt als je zuvor, ist dabei ein willkommener Bonus. Dieses Album wird mich sehr lange begleiten, davon bin ich überzeugt. Nicht nur, weil es aufgrund seines Inhalts Bezugs- und gleichzeitig Fluchtpunkte zur und aus der Wirklichkeit bietet, sondern auch, weil die Melodien schlicht dazu einladen, sich in ihnen zu verlieren. Immer und immer wieder. „Broken Legacies“ ist definitiv eines der besten Alben, die das Jahr 2017 zu Gehör bekommen hat – und darüber hinaus!
Manchmal muss man einen Schritt zurück machen, um vorwärtszukommen. Und wenn das eben, wie im Falle von mind.in.a.box, nur inhaltlich geschieht. „Broken Legacies“ ist quasi ein Prequel zu den bisherigen fünf Ausflügen ins Dreamweb. Musikalisch aber ist es ein gewaltiger Schritt nach vorn! Niemals klang ein mind.in.a.box-Album größer, epischer, wuchtiger und abwechslungsreicher als in diesem Fall. All das, was mind.in.a.box war und ist, findet sich auf diesem Album wieder. Inzwischen hätte man ja denken können, die Band hätte sämtliche Grenzen, den Sound ihres Projekts zu definieren, ausgelotet. Und doch hat sie abermals neue Wege gefunden, Stefans Stimme elektronisch zu verfremden, neue Klangtüfteleien zu erdenken und wunderbar harmonische, elektronische Melodien, die der Science-Fiction-Handlung das passende Mäntelchen umlegen, zu ersinnen. Dass die Experimente, die er sich mit seinem Nebenprojekt Thyx gestattet, hier unweigerlich dann und wann durchschimmern, ist definitiv Segen und nicht Fluch. Ich bin schon lange dieser Meinung, aber allerspätestens jetzt müssen wir wirklich differenzieren: es gibt (düster-)elektronische Musik verschiedenster Art – und es gibt mind.in.a.box! Eine Klasse, ja ein Genre für sich. „Broken Legacies“ ist Stefan Poiss’ Meisterstück. Bisher. Nach diversen mind.in.a.box– und Thyx-Alben muss aber davon ausgegangen werden, dass das Ende der Fahnenstange noch immer nicht erreicht ist. Auch wenn er sich hiermit die Messlatte selbst enorm hoch gelegt hat. Wer bisher noch keinen Ausflug in das Dreamweb unternommen hat, dem ist nun endgültig die Ausrede dafür entzogen worden. Lange Rede, kurzer Sinn: Weltklasse-Album und ganz klar eines der besten in 2017!