📸: Infacted Recordings

Be a Rebel: „Core“, das neue Album von The Saint Paul überzeugt einmal mehr mit präzisen Beobachtungen

In einem Paralleluniversum ist „Core“, das nunmehr vierte Album von The Saint Paul, bereits irgendwann gegen Ende des letzten Jahres erschienen. Im gleichen Paralleluniversum müssen wir uns auch nicht mit dieser behämmerten Pandemie herumplagen. In diesem Universum würden wir stattdessen bereits seit Wochen — ach, was red’ ich — seit Monaten in den zwölf neuen Songs schwelgen, die das Trio Paul, Marc und Robin ersonnen hat.

Nun ja. Was lange währt, wird irgendwann gut, sag’ ich immer, und somit ist nun heute also der Tag, in dem die ganze Welt endlich in den Genuss von „Core“ kommen kann, so sie denn möchte. Ich sag mal so: Wäre total dufte, wenn sie wollen würde, schließlich ist „Core“ eines dieser Alben, die jede Menge Aufmerksamkeit verdienen.

Gefühlt ist das letzte Album des Trios, „Three“ (2017), gerade erst auf den Markt gekommen. So präsent sind die Songs zumindest bei mir noch. Guten Synth- bzw. Electro-Pop mit Düsteranstrich, dessen Inhalte über Szene-Klischees hinausgeht und durch musikalische Abwechslung und emotionalen, zumal unverfälschten Gesang gefällt, findet man in dieser Zusammenstellung eben nach wie vor nicht alle Tage. Was gut ist, setzt sich eben durch und überzeugt langfristig durch Beständigkeit. Und sei es, dass sich diese Beständigkeit durch einen festen Wohnsitz innerhalb meiner Playlisten äußert.

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Ich habe das Glück, die Entwicklung von The Saint Paul quasi von Beginn an verfolgen zu dürfen. Angefangen bei ihrer ersten EP, „Rewind The Time“ (2011), bis heute. In den +- 10 Jahren hat die Band durch eine bemerkenswerte Konsequenz punkten können. Einerseits haben sie über die Jahre an ihrem Sound, der sie bequem neben Szenegrößen wie Apoptygma Berzerk, VNV Nation oder auch Covenant (wenn diese gerade mal wieder eher poppig unterwegs sind) bestehen lässt, festgehalten. Wenn man also vor 10 Jahren das erste Mal bei The Saint Paul eingeschaltet hat, wird man sich auch im Jahr 2021 nicht umgewöhnen müssen. Ist es nicht schön, in solch unbeständigen und unsicheren Zeiten Konstanten zu haben, an denen man sich festhalten kann?

Gleichzeitig haben The Saint Paul immer wieder Wege gefunden, sich und ihren Stil weiterzuentwickeln. Sei es hinsichtlich des Songwritings oder der besungenen Inhalte. Erinnert Ihr Euch beispielsweise noch an „But He Will“ vom 2015er-Album „Days Without Rain“? Demenzerkrankungen oder andere ähnlich schlimme Dinge zu thematisieren, ist doch eher selten in der Dunkelszene. Auch hinsichtlich der Produktion haben The Saint Paul jedes Mal immer noch eine Schippe drauflegen können. All das führte dazu, dass man heute bei einem neuen Album des Ruhrpott-Trios gleichermaßen weiß, wie sich das Album anfühlen wird, sich aber dennoch überraschen lassen kann.

Eine auffällige Drosselung von Tempo und Härte

Seit 2017 ist viel passiert, und gerade im letzten Jahr haben sich die Ereignisse förmlich überschlagen. Daher wäre es nicht überraschend, wenn das auch irgendwie Einzug in den Sound von TSP gehalten hätte. Ich kann Euch sagen: Das Einzige, was auf „Core“ anders ist, ist die auffällige Rücknahme von Tempo und Härte. Gab es früher noch vergleichsweise schnelle und harte Clubkracher, so sind TSP auf diesem neuen Album sehr viel gemäßigter unterwegs. Was auf mich wie eine organische, ja auch logische (und unterm Strich: konsequente) Weiterentwicklung wirkt. Melodien mit Gefühl sind geblieben, Texte mit Tiefgang und Anspruch ebenfalls — es wird nur nicht mehr ganz so sehr gezappelt wie noch auf vorhergehenden Alben.

Und soll ich Euch was sagen? Das ist ok.

Hörgewohnheiten ändern sich, Geschmäcker ebenfalls. Man wird auch älter, dies das. Und so ein paar potenzielle Tanzflächenfüller sind ja immer noch mit an Bord.

Nehmen wir mal als Beispiel für einen solchen den Song „Superficial“. Gleichermaßen eingängig, tanzbar und sehr ohrwurmig — und ein bisschen wie die Fortsetzung zu „Reality Distortion Field“ vom erwähnten „Days Without Rain“. „Superficial“ handelt von Typen, die über alles erhaben sind — oder zumindest glauben, sie wären es. Kennen wir alle, solche Figuren. Die leben auch in ihrem eigenen Realitätsverzerrungsfeld.

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Be A Rebel

Oder „Be A Rebel“, vorab schon ausgekoppelt und unter Mitwirkung von Jean-Pierre Reuter entstanden. Definitiv ein Knüller von einem Song. Fun-Fact in diesem Fall: die Musik war wohl schon seit gut sechs Jahren im Kasten, es fehlte nur der Text. Was lange währt und so, Ihr wisst schon.

Hinsichtlich der ernsten Themen macht auch „Core“ keine Ausnahme. Das in flottem Tempo dargebotene „Triage“ beispielsweise könnte aktueller kaum sein. Wir alle haben sicher noch die Bilder vor Augen von überfüllten Intensivstationen und überarbeitetem Medizinpersonal. Von Ärzt*innen, die innerhalb kurzer Zeit darüber entscheiden mussten, wer die Chance zum Weiterleben bekommt — und wer nicht. Wer die Nachrichten in den vergangenen Monaten mitverfolgt hat, wird sich erinnern. Bei den derzeit steigenden Coronazahlen ist zu befürchten, dass wir uns ziemlich schnell wieder in einer Situation befinden, die eine Triage erforderlich macht. Allerdings: das Pandemiegeschehen war gar nicht der Anlass für diesen Text, wenngleich er natürlich passt wie Arsch auf Eimer. Hintergrund war viel mehr eine Sendung des WDR Radios, die Sänger Paul hörte und die sich mit dem Tun eines Arztes vom Roten Kreuz beschäftigte, der seinerzeit nach dem Zugunglück von Eschede (1998) zum Unfallort gerufen wurde, um dort zu helfen. Und offenbar dort ebenfalls Entscheidungen treffen musste, die ich mir ganz ehrlich nicht zutrauen würde.

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Neben den Uptempo-Nummern sind es ja auch gerne mal die balladesken Songs, mit denen TSP ihre Hörer*innen abholen. Die Einladung zur Träumerei erfolgt hier beispielsweise in Form des Songs „Melancholy Of The Sun“. Es fällt nicht schwer, dass diese Pop-Nummer im Breitbildformat ein Song ist, zu dem Sterne tanzen. Richtig gut!

Foto: Olli Haas

Apropos richtig gut: außerordentlich beeindruckend ist meines Erachtens auch „Viktor“ ausgefallen. „Viktor“ erzählt von einem Menschen, den TSP mal nach einem Konzert kennenlernten. Fühlt sich wie ein Junge, wurde aber als Mädchen geboren und versucht nun, einen Weg in einer Welt zu finden, die leider noch sehr weit davon entfernt ist, zu verstehen und zu akzeptieren, dass es schlicht und ergreifend keine Rolle spielt, welchem Geschlecht sich eine Person zugehörig fühlt. Oder auch nur, wo die Liebe hinfällt.

Toleranz, Gleichberechtigung und Akzeptanz sind Worthülsen, die noch einen langen Weg vor sich haben, um wirklich mit Leben gefüllt zu sein. Kudos für The Saint Paul an dieser Stelle dafür, dass sie ihre Stimme nutzen, um denen Gehör verschaffen, die sie oft genug nicht einmal erheben können. Schauspieler Elliot Page auf dem Cover des Time Magazine ist ein Schritt auf diesem langen Weg, „Viktor“ ein weiterer. Ganz stark!

Inhaltlich also über weite Strecken ziemlich eindrucksvoll, was Paul und Marc hier liefern. Auch musikalisch mehr als überzeugend. Wenn sie mit dem epischen „Future The Past“ das Album ausklingen lassen, fahren sie noch einmal alle Geschütze auf. Emotional ergreifend, musikalisch überwältigend, inhaltlich mehr als abholend. Hier standen offenbar die ganz großen Emotions-Hymnen Pate, die beispielsweise VNV Nation so gut können. Was soll ich Euch noch sagen, Freunde — spätestens mit „Future The Past“ spielen sie in der gleichen Liga.

Wäre „Core“ im letzten Jahr bereits erschienen, hätte es als Seelentröster in den in doppelter Hinsicht dunklen Monaten dienen können. Hat nicht sollen sein. Zwar nähern wir uns nun dem Frühling an, die Dunkelheit in Form der Pandemie wird uns aber wohl aber noch eine ganze Weile begleiten. Da ist es gut, dass „Core“ als musikalisches Trostpflaster nun endlich erhältlich ist. Jede Wette: so mancher der enthaltenen Songs geht direkt durch und berührt mitten im Kern.

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Ich muss sagen, ich freue mich sehr über dieses Album. Es bietet die von The Saint Paul gewohnte musikalische Abwechslung, es ist inhaltlich wieder einmal vielen Mitbewerber*innen, die auf den gleichen Festivals spielen würden, wenn es denn ginge, weit überlegen und ist schlussendlich einmal mehr ein Zeugnis davon, wie sehr sich diese Band weiterentwickeln kann, ohne die gewohnten Pfade zu verlassen.

Dass es ungeachtet der zweifellos vorhandenen tanzbaren Songs dieses Albums hier etwas gemäßigter zur Sache steht, gefällt mir gut. Das gibt den Inhalten und den Melodien so viel mehr Gelegenheit, sich im Raum zu entfalten und den Hörenden die Chance, sich mit den Songs zu beschäftigen. Sie auf sich wirken zu lassen. Um dann, am Ende festzustellen, dass „Core“, also Album Nummer 4, das in allen Belangen gereifteste — und beste! — Album des Trios ist. Sie haben aus den gewohnten und bekannten Zutaten einmal mehr etwas tolles Neues entstehen lassen!

Ich freue mich auf die nächsten zehn Jahre mit The Saint Paul, in denen mich ihr Tun begleiten wird.


Erscheinungsdatum
19. März 2021
Band / Künstler*in
The Saint Paul
Album
Core
Genre
FuturePop
Label
Infacted Recordings
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