Bisher lediglich drei Alben (vier, wenn man eine erneute Veröffentlichung mit einberechnet) haben sie bisher im Kasten, das letzte „richtige“ Studioalbum liegt auch schon gute acht Jahre zurück. Und dennoch bekommen Freund*innen hochwertiger, intelligenter elektronischer Musik stets ein ganz besonderes Glänzen in den Augen, wenn die Rede von Seabound ist. Qualität statt Quantität scheint die oberste Maxime der Herren Martin Vorbrodt und Frank M. Spinath zu sein. Und auch wenn sich durch die Beteiligung Franks in anderen Musikprojekten die Wartezeit gar nicht so lang anfühlte – schön, dass sie endlich vorbei ist und an diesem Freitag, pünktlich zum Valentinstag, das neue Seabound-Album „Speak in Storms“ erscheint! Es ist mir ein außerordentliches Vergnügen, Euch das neue Album von Avalosts Namensgebern nachfolgend bereits jetzt vorstellen zu dürfen.
Im Gegensatz zu vielen Genre- und Szenekolleg*innen war die Musik von Seabound schon immer mehr Rhythmus als Melodie, schon immer mehr kühle Zurückhaltung als überbordende Spielereien. Und vor allem war die Musik Seabounds schon immer ein Ausflug in menschliche Gemütszustände, förmlich ein Bohren in der Psyche. Eine Achterbahnfahrt durch Gedanken und Gefühle, bei der die Scheinwerfer nur zu gerne die Schattenseiten bestrahlten. Das überrascht nicht, schließlich ist Sänger und Texter Frank M. Spinath im wahren Leben Psychologieprofessor. Um die entsprechenden Fachgebiete mal außen vor zulassen: Er befasst sich mit der Persönlichkeitsforschung. Hier werden Unterschiede zwischen einzelnen Personen untersucht und wie sie sich im Hinblick auf genetische Anlagen sowie soziale Einflüsse entwickeln. In welcher Verbindung stehen diese zueinander und vor allem: an welchen Schrauben muss gezogen werden, um Veränderungen hervorzurufen? Spannendes Thema!
Und immer wieder scheinbarer Einfluss auf die Inhalte. Stets zwischen den Zeilen versteckt die Frage: Wer bin ich? Und wer bist du? Bei „Speak in Storms“ wird es wohl nicht anders gewesen sein. Die Musik von Seabound lud seit jeher dazu ein, den Texten zwar zu folgen, sich dennoch einen eigenen Reim darauf zu machen. Auf dem neuen Album ist dies nicht anders, dennoch geben Seabound im Booklet einen kleinen Hinweis darauf, was das inhaltliche Konzept dieses Albums ist. Ich möchte Euch an dieser Stelle nicht spoilern, daher sage ich es mal so: Nicht immer ist eine strahlende Persönlichkeit, die mit beiden Beinen so vermeintlich fest im Leben steht, sich an einer glänzenden Karriere, Frau, Kindern, von mir aus auch einem Häuschen mit weißem Lattenzaun (und der Buntspecht klopft eine Melodei) erfreut, so standfest oder glücklich, wie man es vermuten könnte. Immer wieder kommt es vor, dass es hinter der Fassade brodelt. Dass ein Sturm aufzieht.
Da wir es hier aus naheliegenden Gründen mit der für uns wichtigsten Veröffentlichung des Jahres zu tun haben, werfen wir nachfolgend doch mal einen Blick auf die neuen Songs. Holt Euch eventuell noch mal einen Kaffee, das dauert jetzt etwas.
Psychologisch gefärbte Texte, unterkühlte Elektronik
For Life: Martin und Frank lassen es langsam angehen. Dem Albumtitel entsprechend hat man hier förmlich das Gefühl, am Fenster zu sitzen und zugucken zu können, wie sich schwere, dunkle Wolken vor einen eben noch sonnigen Himmel schieben. Es braut sich etwas zusammen. Schau noch mal hin. Take one last look at the sky. Das Donnerwetter, in welcher Form auch immer, ist unterwegs. „For Life“ ist ein schwerer, düsterer Song mit herrlich vielfältigem Arrangement, der gleich zu Beginn deutlich macht: gefeiert wird woanders.
Contraband: Auch dieser Song schleicht sich ganz langsam ins Gehör, lässt den Bass immer wieder kurz bedrohlich aufdröhnen, während sphärische Synthies in trügerischer Sicherheit wiegen. Bis das herrlich akustisch klingende Schlagzeug einsetzt und wir Zeuge eines doch ziemlich mächtigen Songs werden.
For Another Day: Hier wird es treibender, tanzbarer, elektronischer – und hier macht sich das erste Mal ein „zurück zu den Wurzeln“-Gefühl breit. Die Melodie-Fragmente, der Beat, die Art wie Frank Textzeilen wie „I’m A Happy Man / I’m A Dead Man / I Am What I Am“ singt, erinnern mich sehr an „Smoke“ vom Debütalbum „No Sleep Demon“. Nebenbei handelt es sich übrigens um den heimlichen Star dieses Albums.
Liberty Rose: Ein sehr düsterer, langsamer und nahezu instrumentaler Song, ganz in der Tradition von „Soul Diver“ oder „Separation“ von „Beyond Flatline“ oder besser noch: „Point Break“ von „No Sleep Demon“. Wie viel Bedeutung man doch in die paar wenigen Zeilen Text interpretieren kann, die uns erklären, dass man stillhalten und den Schmerz ertragen soll! Man könnte den Titel bei Google eingeben und fände vermutlich ziemlich schnell einen Erotiktreff. Man könnte die Begriffe einzeln übersetzen und käme auf etwas wie „erwachte Freiheit“. Beides irgendwie passend, wenn inzwischen schon Schmerz nötig ist, um noch etwas zu fühlen. Daneben vermittelt „Liberty Rose“ dieses unangenehme Gefühl, das immer herrscht, wenn man gerade aus einem Albtraum aufgewacht ist. Herzrasen, Adrenalinausstoß, verschwitzte Bettwäsche und dieser Moment totaler Anspannung inklusive.
A Grown Man: Hier zieht das Tempo wieder an. Ich würde sogar behaupten wollen, dass dies der bisher „typischste“ Seabound-Song ist. Will sagen: stampfende Beats, Franks Gesang mal normal, mal flüsternd, mal flüsternd verzerrt, mal schreiend verzerrt, mal flirrende und mal pulsierende Synthies – et voilà: fertig ist Song, den man unter Millionen anderer sofort als einen von Seabound identifizieren kann.
Everything: Wo bleiben denn nun die partytauglichen Songs, die es bis dato noch auf jeder Veröffentlichung Seabounds gegeben hat, fragt Ihr? Hier ist einer. Zu dem Song lässt es sich ganz hervorragend mitwippen und ich sehe Euch schon vor mir, wie Ihr den Refrain auf Konzerten mitsingt. Man könnte es für einen weiteren Beitrag in der Reihe „Avalost“, „Watching Over You“ und „Castaway“ halten, eben wegen des Refrains. Ist es aber nicht. Auf Eure Interpretationen dazu bin ich gespannt.
Lair: Hach, und noch so ein wunderbar düsterer Song. So wie Dauerregen, der leicht, aber beständig gegen Fenster klopft, so tröpfeln die Strophen und die sie umgebenden, ruhigen Arrangements ins Gehör, während es im Refrain einmal mehr zu einem stürmischen Wolkenbruch kommt. Eine schallende Ohrfeige für jeden, der schon mal auf unschöne Weise aus einer Beziehung gegangen ist. Oder die Flucht angetreten hat, bevor es überhaupt auch nur zu einer solchen kommen konnte. Das akustische Versteck des schlechten Gewissens.
The Escape: Seabound– und/oder Dependent-Fans kennen diesen Song bereits von der „Dependence 2012“ Compilation. Hier feierte der Song seinen Einstand. Damals von einigen als zu schwer, zu sperrig, zu wenig eingängig empfunden, passt er auf „Speak in Storms“ hervorragend ins Bild. Auch wenn klar ist, dass sich an den genannten Attributen nüscht geändert hat. Kühl und minimal, gleichwohl treibend und brachial. Ein mächtig mächtiger Song, nicht mehr, nicht weniger.
Nothing But Love: Dieser Song war ebenfalls schon bekannt, ebenfalls von einer „Dependence“-Compilation. Besucher*innen des Amphi Festivals 2012 konnten sich zudem schon von den Live-Qualitäten dieses Songs überzeugen. „Nothing But Love“ ist ein kleiner Lichtblick, ein kurzes Aufreißen dieses dunklen Klanghimmels, den Seabound auf diesem Album über ihren Hörer*innen ausbreiten. Und gleichzeitig ziemlich zynisch. Fröhliche Melodien umrahmen einen endzeitlichen Text. Widersprüche, wie sie so schön verpackt nur Seabound liefern können.
Black Feathers: Der kurze Silberstreifen am Horizont, der noch im Song zuvor heraufbeschworen wurde, wird hier vom bedrückenden Finale des Albums weg gewischt. Sieht man von Remixen oder Live-Aufnahmen ab, gehört „Black Feathers“ mit einer Spielzeit von 7:21 Minuten zu den längsten Seabound-Songs überhaupt. Und mag es ohrenscheinlich auch noch so eine düster-depressive Stimmung verbreiten – das Potenzial, Euch zu herzen und wirklich bescheidene Zeiten etwas weniger schlimm zu machen, ist da. Ein akustischer Wegbegleiter zurück auf den richtigen Weg vielleicht, oder das vermittelte Gefühl: Du bist nicht allein.
Insgesamt wirkt „Speak in Storms“ auf mich ein bisschen wie ein oder zwei Schritte zurück, vielleicht sogar bis zum Anfang, um dabei dennoch vorwärtszukommen. Es finden sich Spurenelemente aller bisherigen Seabound-Alben und auch das Tun Franks bei seinen anderen Projekten schimmert dann und wann kurz unter der Wasseroberfläche hervor. Somit stellt sich schnell das wohlige Gefühl von Heimkehr ein. Und das, obwohl „Speak in Storms“ nach meinem Empfinden das bisher kühlste und dunkelste, musikalisch reifste Album des Duos überhaupt darstellt. Zu den wie immer auf so vielfältige Weise interpretierbaren Texten aus der Feder Franks sowie seinem gefühlvollen Gesang gesellt sich Martins berauschende Musik. Beides ergibt eine Einheit, die Seabound in den Ohren ihrer Fans zu Recht über die Mitbewerber*innen hebt. Es ergibt ein Hörerlebnis, das so manche Nacht kurz werden lässt, da das Kopfkino, das Gedankenkarussell hier unweigerlich und unaufhaltbar in Gang gesetzt wird. No Sleep, Demon! Einmal mehr.
Musikalisch beinahe eine Rückkehr zu den Wurzeln
Besitzer*innen der „Tempest“-Edition kommen zusätzlich in den Genuss des Bonus-Songs „When She’s Hungry“. Einer dieser Songs, die sich möglicherweise von Euch mehrmals bitten lassen, bevor sie zünden. Darüber hinaus gibt es sechs Remixe. Bemerkenswert ist hier vor allem der Dead When I Found Her-Remix von „For Another Day“, der den Song in ein deutlich dunkleres, akustischeres Gewand steckt. Assoziationen an verrauchte, schummrige Großstadtbars werden wach, in der sich die verlorenen Seelen treffen, um zum Trauerspiel der örtlichen Band ihre Sorgen in jeder Menge Alkohol zu ertränken. Weiterhin: Die Requiem-Version von „Black Feathers“. Oh weh, wer beim Original nicht schon mit einer emotionalen Reizüberflutung zu kämpfen hatte, wird spätestens hier richtig schlucken müssen.
Ein paar Worte noch zum Artwork. Im Vorfeld tönte es aus diversen Ecken des Dependent-Lagers, es handele sich bei „Speak In Storms“ womöglich um die schönste CD, die sie bisher gemacht hätten. Und tatsächlich sind manche Illustrationen so schick, dass man sie sich gerahmt an die Wand hängen möchte. Einfach um sie immer wieder mal zu betrachten und die Gedanken schweifen zu lassen. Das Artwork entstammt dieses Mal dem kreativen Geiste Nico J.s, der schon bei seinen Acretongue-Alben unter Beweis stellte, dass er ein Händchen für Gestaltung hat. Er orientiert sich dabei ein bisschen an der Optik des 2004er Abums „Beyond Flatline“. Und so schick das Booklet der normalen Fassung des Albums auch ist, die Krönung ist die der auf 300 Stück limitierten „Tempest“-Edition. Die umfasst gleich geschmeidige 48 Seiten und beinhaltet somit viel mehr Platz für mehr faszinierende, betörende Fotos und Illustrationen. Der Bandname findet in den Arbeiten von Nico J. genauso Berücksichtigung wie das Konzept des Albums. Somit ergeben Inhalt und Verpackung ein überzeugendes Gesamtkunstwerk.
Im Zuge der Veröffentlichung dieses Albums werden Seabound übrigens wieder auf Tour gehen. Nach gut und gerne sieben Jahren machen sie dabei auch Halt in unserem Wohnzimmer, der Meier Music Hall in Braunschweig. Begleitet werden Seabound auf ihrer „Speak in Storms“-Tour an wenigen Terminen von Architect, auf den meisten jedoch von Iris. Damit steht doch neuerlichen Duetten beim Überhit „Watching Over You“ eigentlich nichts mehr im Wege, oder?
Wann und warum das passierte, weiß ich nicht, aber ich beobachte in letzter Zeit immer häufiger, dass in den Köpfen vieler Leute folgende Assoziationen aufploppen, sobald die Rede von elektronischer Musik ist: Party, Tanzen, gute Laune. Je nach Szenezugehörigkeit eventuell noch ergänzt durch: Geballer, verzerrte Vocals, Krach. Knicklichter. Wie schön: Hier gibt es nichts davon. Seabound-Kenner*innen unter Euch werden bestätigen können: Es gab zwar immer wieder in der Diskografie der Band den ein oder anderen Song, der sich zum Partyhit mauserte, ansonsten jedoch war der unterkühlte Sound der Band vor allem Musik für den Verstand. Darum vergleiche ich „Speak in Storms“ eher mit einem guten Buch. Was passiert denn, wenn man von einem solchen gefangen wird? Sind es die Extremitäten, die in Bewegung versetzt werden? (Seiten umblättern gilt dabei nicht.) Oder sind es nicht eher Eure Gedanken, die Tango tanzen? „Speak in Storms“ ist das erwartete (und erhoffte) Meisterwerk geworden, das sich sämtlichen aktuellen Trends widersetzt und mit jedem Hördurchgang an Größe gewinnt. Eine aus dem Sturm gefischte Muschel, die in manchen Momenten hart zu knacken ist, die Geduld dafür aber mit einer umso glänzenderen und wertvolleren Perle belohnt. Was mich angeht: Es gibt keine Band auf diesem Planeten, die es so gut versteht, mich musikalisch und inhaltlich zu umgarnen und manchmal das Gefühl verschafft, ertappt worden zu sein. Seabound haben verstanden. Nicht nur mich und die Dämonen in mir.