Als Kettcar nach ihrem bisher letzten Album „Zwischen den Runden“ aus 2012 eine Pause verkündeten, hätte man beinahe vermuten können, dass hiermit nach gut und gerne zehn Jahren das Ende der gemeinsamen Reise eingeläutet worden wäre. Noch dazu, wo Kettcar-Frontmann Marcus Wiebusch 2014 sein erstes Solo-Album „Konfetti“ veröffentlichte. Nein, für Fans standen die Zeichen nicht gut, jahrelang herrschte Funkstille im Hause Kettcar – aller Beteuerungen, dass es eben nicht das Ende der Band darstelle, zum Trotz.
Inzwischen befinden wir uns im Herbst 2017 und in einer Welt und einer Zeit, die nicht nur der Temperaturen und des Wetters wegen wirklich ungemütlich geworden ist. An allen Ecken und Enden brodelt und kriselt es. Empathielose Egomanen beherrschen das größte Land der Welt, der nukleare Winter winkt manches Mal ziemlich gefährlich hervor und in unserem Land werden Stimmen und Strömungen immer lauter, die eigentlich überwunden schienen. Eine Partei, die ganz offen mit rechter Kackscheiße um die Gunst der Wähler buhlt, zieht in den Bundestag ein. Ach so „besorgte“ Bürger*innen krakeelen in diversen Regionen des Landes Parolen bei Montagsdemonstrationen heraus, und man kann nicht anders als Kopfschütteln und sich fragen, ob sie es nicht eigentlich besser wissen müssten. In dieser Zeit also, wo Politik wieder mehr Menschen zu einer wie auch immer gearteten Meinung bewegt, wo soziale Kälte die Außentemperaturen um einiges unterbietet, in dieser Zeit beenden Kettcar ihre fünfeinhalb Jahre dauernde Pause in Form ihres fünften Studio-Albums „Ich vs. Wir“. Angesichts des Inhalts, den Kettcar liefern, kommen sie genau im richtigen Moment zurück.
Schon allein der Titel des Albums zeigt eines von vielen Dingen auf, die in diesem Land gerade ganz gehörig schieflaufen. Und nicht nur hier, eigentlich sogar weltweit. Erst mal komme ich, dann der Rest und nach mir die Sintflut. Das kann so gesehen werden, wenn der Orange im weißen Haus aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigt, das kann aber auch auf Landesebene betrachtet werden. Erst einmal an das eigene Wohl denken und einen feuchten Furz darauf geben, wie es Menschen jenseits unserer Grenzen wohl ergeht. „Was kümmern mich denn die Flüchtlinge, sollen die doch bleiben, wo sie sind, das sind doch eh alles nur Verbrecher, Vergewaltiger und Wirtschaftsflüchtlinge, die uns alles wegnehmen. Jobs, Wohn- und Lebensraum, unsere Frauen und die deutsche Kultur!“ Ich frage mich, ob Vorurteile, Hass und Rassismus seit der Herrschaft der Nazis im letzten Jahrhundert jemals so präsent waren, wie sie es heute sind. Oder ob es im Verborgenen nie weg war. Und ob jemals so viele Fehlinformationen gestreut und in den Köpfen dafür Empfängliche*r gepflanzt wurden, wie heute. Da kann etwas noch so hieb- und stichfest belegt und bewiesen sein – alles Fake News, alles Lügenpresse! Im Zeitalter sozialer Netze ist es ja auch so einfach und so bequem, sich genau die Filterblase zu suchen, die der eigenen Überzeugung am nächsten kommt. Manchmal möchte man nur noch verzweifeln über so viel Dummheit, wie sie heute überall allgegenwärtig ist. Oder aber: man macht es wie Kettcar und positioniert sich. Laut und deutlich.
Eine inhaltsleere Indie-Rockband, die sich mit ihrem Tun nur um sich selbst dreht, das waren die Hamburger immer schon nicht. So politisch wie auf „Ich vs. Wir“ waren sie aber noch nie. Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass sie wie Chronisten unserer Zeit alles genau beobachten und spitzfindig musikalisch kommentieren, ohne dabei zu sehr mit der Moralkeule um sich zu hauen. Sie erklären AfD-Wähler*innen und PEGIDA-Anhänger*innen nicht pauschal zu fehlgeleiteten Idioten, kreiden die gefährliche Entwicklung aber sehr wohl und vor allem sehr deutlich an. Alles Weitere würde vermutlich ohnehin nur Trotzreaktionen hervorrufen. Kettcar beobachten und halten das Ergebnis in so einigen Songs dieses Albums fest – auf dass geneigte Hörer*innen eigene Rückschlüsse daraus ziehen mögen.
Die vorab ausgekoppelte Single „Wagenburg“ ist ein Paradebeispiel dafür. „Ein Ich ist immer Einzelkrieger / Ein Wir schreit laut / „Ich bin das Volk!“ / Montagsmarsch, Pegida / Wo Egoschweine erst alleine / und dann zusammen, nur an sich denkend / Sich zu einem Wir verlieren / Und jedes Wir sind viele Ichs / Und viele Ichs wollen dann die Wagenburg / Die Wagenburg formieren“, singt Marcus Wiebusch hier. Wer sich ertappt fühlt, wer sich diesen Schuh anzieht … nun, dem passt er womöglich auch.
Ja, die Welt im Jahr 2017 ist kalt geworden. Menschlichkeit, Mitgefühl, Toleranz, Gleichberechtigung – fast scheint es, als handele es sich dabei nur noch um Worthülsen, denen es an Inhalt und Bedeutung fehlt. Als etwas, das irgendwie zu einer optionalen Geschichte verkommen zu sein scheint. Nehmen wir mal das Flüchtlingsthema, bekanntlich ein ganz großer Aufreger in den letzten Jahren. Anstatt den Ursachen auf den Grund und entsprechend dagegen vorzugehen (beispielsweise Waffenlieferungen einstellen würde ja auch eine willkommene Einnahmequelle versiegen lassen), beschließen große Volksparteien, die sich im Namen das Etikett „christlich“ verleihen, Obergrenzen. Sehr christlich. Dabei war das Thema Flüchtlinge schon immer ein Thema der Deutschen. Auch und gerade noch zu der Zeit, als es zwei deutsche Staaten gab. „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ thematisiert das auf sehr eindringliche Weise. Diese Flüchtlingshelfer-Nummer, die davon handelt, wie einer einigen aus der DDR Fliehenden kurz vor dem Zusammenbruch des Arbeiter- und Bauernstaates die Möglichkeit in ein anderes, vielleicht besseres Leben verschafft, ist für mich mit die stärkste Nummer des neuen Albums. Die Schriftstellerin Juli Zeh (u.a. „Spieltrieb“, „Unterleuten“) befindet, es sei ein „Song wie gute Literatur“, anderen hingegen ist „Sommer ’89“ zu pathetisch, ziehen sogar Vergleiche zu Johnny Hill. Nun; nicht alles, was hinkt, ist auch ein Vergleich. Ich finde es wichtig – gerade heute! – daran zu erinnern, dass es auch genügend Deutsche gab, die in den 40 Jahren deutscher Teilung alles hinter sich gelassen haben, um innerhalb des Grenzbereichs der BRD eine Zukunft zu suchen. Ich gehe jede Wette ein, dass von denen, die heute „Wir sind das Volk!“ schreien, so einige dazwischen sind, die damals entweder selbst abgehauen sind oder aber Leute im engeren Umkreis hatten, die das getan haben.
In „Mannschaftsaufstellung“ bemühen Kettcar für ihre politische Positionierung das Gleichnis einer deutschen Fußballnationalmannschaft. Über Floskeln, wie sie Reporter gerne in diesem Zusammenhang bemühen, ist klar, dass diese Mannschaft dann eben auch genau das ist: deutsch und national. Das in dieser hintergründigen Art und Weise vor Ohren geführt zu bekommen lässt eigentlich nur ein zustimmendes Kopfnicken zu, wenn es dann im Refrain heißt: „ich bin gegen Deutschland“.
Nun ist aber auf „Ich vs. Wir“ nicht alles politisch eingefärbt. Das wäre über die Dauer von 11 Songs, verteilt auf knapp 50 Minuten, vielleicht auch ein wenig ermüdend. Wie von Kettcar gewohnt, beobachten sie auch das Leben in kleinerem Maßstab. In „Trostbrücke Süd“ gurken sie mit uns in einem öffentlichen Verkehrsmittel durch die Gegend und betrachten die Fahrgäste. Da ist die Frau über 40, die Schundliteratur liest und von der Ehe träumt. Da ist der Typ mit der Aktentasche, der als Big-Business-Mensch lieber Enten im Park füttert, vielleicht weil er eigentlich gar keinen Job mehr hat. Da ist der Junge mit dem Stöpsel im Ohr, der den Tod seines Hundes betrauert – sie alle haben ihr Päckchen zu tragen. Eines, das oftmals nicht verschwindet, wenn man mal nicht hinguckt bzw. darüber nachdenkt. Oder, wie es Kettcar sinnbildlich formulieren: „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser“.
Nehmen wir noch „Benzin und Kartoffelchips“ als anderes Beispiel. Wir leben in einer Zeit aufgereizter Stimmung. Manchmal bedarf es nur eines Funkens, bis das Fass explodiert. Hier erzählen uns Kettcar von einem Typen, dem in einem vielleicht verschuldeten, vielleicht unverschuldeten Geraufe die Hand so sehr ausrutscht, dass hinterher 12 Monate Haft auf dem Zettel stehen. Wir begleiten den Typen und seine Kumpels auf seinem letzten Abend in Freiheit. Noch ein paar Dinge erledigen, bevor es nicht mehr geht. Irgendwann ist irgendwie ein anderes Wort für nie. Das passt nicht nur hier, sondern lässt sich auf so viele Dinge im Leben anwenden. Wie viele Sachen schieben wir auf in dem Glauben, wir hätten ja noch so viel Zeit dafür? Wie schnell das vorbei sein kann, zeigt „Benzin und Kartoffelchips“. Schön, dass Kettcar hier nicht das Bild einer schweren Krankheit oder dergleichen bemüht haben, sondern sich auf diesem Wege des Themas angenommen haben.
Letztes Beispiel: „Die Straßen unseres Viertels“. Wer sich manchmal ein bisschen im eigenen Leben gefangen fühlt, wer mit der Antwort auf die Frage danach, ob das schon alles war, unzufrieden ist, wird sich mit diesem Song gut identifizieren können, denke ich. „Und die Zukunft sie leuchtet ultramarin / Und wir wissen es beide, immer woanders / Gewohnheit der Motor, Angst das Benzin / Und wir werden nie hier wegziehen“. Man kann hier auch hineininterpretieren: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Über den eigenen Schatten springen, auch wenn dieser sich noch so lang vor einem ausbreitet.
Inhaltlich gefällt mir die neue Kettcar-Platte ziemlich gut. Themen, die sie immer schon umgetrieben haben, finden sich hier genauso wieder, wie eine sehr deutliche, politische Ausrichtung. Im letzten Stück des Albums, „Den Revolver entsichern“ heißt es: „Keine einfache Lösung haben ist keine Schwäche sowie einfach mal die Fresse halten ist keine Schwäche und nicht zu allem eine Meinung haben ist keine Schwäche“. Das mag so stimmen. Wer aber dennoch aufsteht, weil ihn die Zustände in diesem Land oder auf der Welt ankotzen, wer dennoch etwas bewegen möchte, und sei der Effekt noch so klein, dem geben die Hamburger die aufmunternden Worte im gleichen Song mit auf den Weg: „von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen“.
Musikalisch sind sie ihrer Linie treu geblieben. Gitarrenlastige Rocksongs sind es, die hier aus den Boxen tönen. Nach einer Pause von mehr als fünf Jahren ist es wenig überraschend, dass die Songs spannender und vielfältiger arrangiert wirken, als es zuletzt der Fall war. Es wäre ja auch ein Jammer, hätte man hier etwas anderes feststellen müssen. Der Sprechgesang und die luftige, flirrende Untermalung in den Strophen von „Sommer ’89“; die melancholische Stimmung zu Beginn sowie der Chor am Ende von „Trostbrücke Süd“, die schon fast geknüppelte „Mannschaftsaufstellung“ oder die geradlinige und sehr eingängige Rocknummer „Mit der Stimme eines Irren“ – an Abwechslung innerhalb des selbst gesteckten musikalischen Rahmens mangelt es „Ich vs. Wir“ nicht. Dennoch gilt auch 2017: wo Kettcar draufsteht, ist auch in Sachen Klang Kettcar drin. Schön, dass manche Dinge scheinbar unverrückbar sind. Und wenn man schlussendlich alles andere beiseiteschiebt, so bleiben auf diesem Album elf Songs, die jeder auf ganz eigene Weise für sich gefangen nehmen. Und live mit Sicherheit auch gut funktionieren werden.
Die zehn Songs dieses Albums gleichen jeder einer Art Diorama, in denen Kettcar ein Schaubild unser aktuellen Wirklichkeit in mühevoller, detaillierter Kleinstarbeit zeigen. Als Hörer*in klebt man mit der Nase an den Glasscheiben, die uns von den gezeigten Szenen trennen – und muss ein ums andere Mal erkennen, dass das Glas doch nicht so sehr trennt, wie es einem vielleicht lieb ist. Was den politischen Teil des Albums angeht – klar, da wird jede*r Hörer*in eine eigene Meinung haben. Ob Kettcar in irgendeiner Weise beeinflussen können, ist fraglich. Dafür nehmen sie hier zu sehr die Position von Beobachtenden ein, wenngleich es an mehr oder weniger offensichtlichen Stellungnahmen gegen den rechten Rand der Gesellschaft nicht mangelt. Filterblasen wird „Ich vs. Wir“ nicht platzen lassen, fürchte ich, aber dennoch ist es gut und richtig und wichtig, dass die Hamburger trotzdem dagegen ansticheln. In den Momenten aber, in denen auf „Ich vs. Wir“ vom großen Ganzen an die Details herangezoomt wird, gewinnt das Album noch zusätzlich an Größe und Tiefe. Es ist schön, dass Kettcar wieder da sind.
„Ich vs. Wir“ als Gitarrenrock-Album von Format nimmt wie ein Platzhirsch in einem Genre Platz, das viel zu lange nachgerückten Bands wie Wanda (und wie sie alle heißen) überlassen wurde – und schickt sie zurück auf die Schulbank. Die wichtigste Botschaft aber, die Kettcar 2017 vermitteln, ist: Menschlichkeit ist niemals optional.