Miles Morales, der Spider-Man aus Brooklyn, ist längst schon fester Bestandteil des primären Erzählkanons im Hause Marvel. Das war allerdings nicht immer so. Erdacht wurde der junge Mann mit den erstaunlichen Fähigkeiten für die Alternativ-Welt-Geschichten, die als Ultimatives Universum bekannt werden sollten. Heute ist das sogenannte Multiversum ein alter Hut und Erde-616 die Primärwelt, in der sich die bekannten Figuren aufhalten.
Im Ultimativen Universum ließ man Peter Parker, den originalen Spider-Man, irgendwann sterben, besagter Miles Morales trat dessen Nachfolge an. Alles alte Zöpfe, wie gesagt. Aber in jenen Tagen, als das Ultimative Universum noch parallel zum Hauptuniversum existierte, gab es immer wieder Rufe nach einem Cross-over zwischen den Welten. „Spider-Men“, im Rahmen von Paninis „Marvel Must-Have”-Reihe neu aufgelegt, ist ein solches Cross-over. Diese erste Begegnung der beiden Spider-Männer hat sich seinen Platz in dieser Reihe redlich verdient.
Auf Erde-616 macht der erwachsene Peter Parker das, was er immer macht. Irgendwie mit seinem Leben, das in der Doppelrolle als Superheld und Normalbürger mit sehr irdischen Problemen gefangen ist, zurechtkommen. Und vor allem: Jagd auf umtriebige Finsterlinge, die das Leben der Menschen in New York gefährden.
Dieses Mal ist es Mysterio – oder, wie b wahrscheinlich sagen würde: Der Typ mit dem Goldfischglas auf dem Kopp – der um eine ordentliche Tracht Prügel bettelt. Nun bleibt es dabei aber nicht und Peter landet durch ein Dimensionsportal auf Erde-1610. Seiner Welt sehr ähnlich. Und doch mit ein paar gravierenden Unterschieden.
Gwen Stacy beispielsweise ist hier am Leben und wohnt bei Tante May. Ein Teenager in einem schwarzen Spider-Man-Kostüm schwingt durch die Straßen. Und Peter Parkers geheime Identität ist hier nicht nur offenbart – die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft ist in dieser Welt schon längst tot! Und weil das noch nicht reicht, um Peter ordentlich zu schocken, taucht Mysterio via Avatar in dieser Dimension ebenfalls auf. Weiterer Ärger garantiert.
Auch wenn man es zunächst einmal anders vermuten könnte: Dieses Cross-over der beiden Spider-Men ist nicht die übliche Klopperei, bei der ein Gockel versucht, dem anderen den Platz streitig zu machen. Kein Kräftemessen, wer nun das längste oder dickste Netz hat. Zunächst kommt es natürlich zu Reibereien – ich meine, hey, wir sprechen immer noch über einen Superheldencomic! – aber eigentlich liegt der Fokus der Geschichte ganz woanders.
Superstar-Autor Brian Michael Bendis („Moon Knight“), ganz maßgeblich nicht nur an der Entstehung des Ultimativen Universums und vor allem auch an der Figur des Miles Morales beteiligt, legt seinen Fokus auf eine ziemlich emotionale Begegnung der Figuren. Es gibt eine Szene in diesem Comic, da sitzt Peter, dessen Gegenstück in dieser Welt schon tot ist, im Haus seiner Tante May, und unterhält sich mit ihr, mit Gwen, mit Miles. Keine große Sache eigentlich, aber wie so oft bei Bendis sehr dialogstark. Und sehr gefühlvoll.
Die wenigsten von uns werden wohl die Erfahrung machen, mit geliebten Menschen zu sprechen, nachdem diese uns bzw. unsere Gegenstücke zu Grabe getragen haben. Aber wie das aussehen könnte, wie das emotional aufwühlen kann, das kommt hier in diesen kleinen, aber feinen Momenten gut rüber.
Das ist es auch, was diesen Comic besonders macht. Nicht das Auftreten von Nick Fury, hier seinem Filmebenbild ähnlicher als auf der Haupterde, oder die Klugscheißereien von Tony Stark alias Iron Man. Auch nicht die gekonnt in Szene gesetzten Actionszenen. Die leisen Töne sind es, die dieses Aufeinandertreffen so besonders machen.
Für die bildliche Umsetzung war die italienische Zeichnerin Sara Pichelli verantwortlich. Die Dame bringt richtig gute, sehr lebhafte, sehr detaillierte und vor allem sehr dynamische Zeichnungen aufs Papier. Dazu die Farben von Justin Ponsor und fertig ist ein Abenteuer, das auch als Film oder Videospiel hervorragend funktioniert hätte.
Alles in allem eine tolle, emotionale Geschichte, richtig schick anzusehen und schon allein deshalb ein verdientes Marvel Must-Have. Abgesehen davon ist dies auch einer der ersten Schritte dorthin gewesen, was heute als Spider-Verse bekannt ist.