Das Spider-Verse ist eine Sache. Eine große. Klar, ich könnte jetzt den Oscar anführen, den „Spider-Man: A New Universe“ als bester Animationsfilm gewann. Oder ich könnte vielleicht auch in den Raum stellen, dass „Spider-Man: Across the Spider-Verse“ auf Platz 6 der erfolgreichsten Filme des Jahres 2023 gelandet ist – noch vor vermeintlichen Goldeseln wie „Mission Impossible“. Aber das Spider-Verse, also eine ganzes multidimensionales und vor allem multimediales Universum voller freundlicher Spinnen aus der Nachbarschaft ist noch viel mehr als gelungene Animationsfilme. Die Spieleschmiede Insomniac Games köchelt mit ihren bisherigen beiden „Spider-Man“-Spielen ein eigenes Süppchen, das irgendwie im Spider-Verse verortet werden kann und natürlich ist das auch in der Brutstätte aller Spinnen-Abenteuer eine Sache: in den Comics. Und bevor man sich über das Konzept von Multiversen (kurz und knapp gesagt: viele verschiedene Welten bzw. Realitäten mit jeweils eigenem Spider-Man) und so weiter wirklich ab 2014 eine Platte machte, gab es bereits zehn Jahre früher eine Art Ausblick auf das, was da kommen sollte, und eine indische Version von Spider-Man gab 2004 sein Debüt. Hintergrund waren seinerzeit Marvels Bemühungen, in den wachsenden indischen Comicmarkt zu expandieren. Pavitr Prabhakar, so der Name des indischen Wandkrabblers, war fortan immer mal wieder Gast im Spider-Verse. Nun ist Pavitr Prabhakar zumindest bisher nicht die gleiche Popularität zuteilgeworden, wie dem ebenfalls aus einer alternativen Realität hervorgegangenen und inzwischen im Canon einzogenen Miles Morales, neue Geschichten erscheinen aber dennoch immer mal wieder. So wie die Mini-Serie, die Panini in diesen Tagen veröffentlicht: „Spider-Man: Indien – Netze über Mumbai“ heißt sie und die kann man wirklich mal gelesen haben. Nachfolgend möchte ich Euch auch noch erklären, warum.
Grundsätzlich ist erst einmal festzuhalten: Das Rad erfindet Autor Nikesh Shukla nicht neu. Aus vielerlei bekannten Zutaten scheint diese Geschichte zusammengeklöppelt worden zu sein. So prügelt sich Peter Par … ähem, Pavitr Prabhakar mit der indischen Version des Lizards durch die Slums von Mubai. Dass dabei auch noch ein Wüterich auf den Plan tritt, der ganz dezent an Kraven, den Jäger, erinnert, stört dabei nicht weiter. Auch die grobe Rahmenhandlung – böse Firma möchte Slums einäschern und auf den Ruinen eine fancy neue Stadt errichten – erinnert ein wenig an die Rahmenhandlung des Films „RoboCop“. Besser gut geklaut als schlecht selbst erdacht, nicht wahr?
Seinen Reiz bezieht dieser Comic aber durch das Drücken eines in Essig getauchten Fingers in die Wunde bezüglich der Macht, die Social Media über die Kontrolle der Massen heutzutage hat. Die PR-Abteilung jener Firma, die als OCP-Klon die Slums abreißen und die Menschen dort vertreiben möchte, ist extrem am Puls der Zeit und hat ganz schnell herausgefunden, dass es doch ganz nützlich wäre, Spider-Man zum Bösewicht zu machen. Und ehe er es sich versieht, hat er erst einen ausgewachsenen Shitstorm, fröhlich verteilt über den Ventilator an der Decke, an der Backe – und später einen wütenden Mob vor sich.
Wie sehr das von aktuellen Ereignissen inspiriert oder gar überholt wurde, sieht man ja quasi jeden Tag. Zum Beispiel, wenn scheidende US-Präsidenten zum Sturm auf das Kapitol aufrufen oder vermeintliche Protestanten gewählten Volksvertretern bei ihrem Urlaub vor einem Fähranleger auflauern. Social Media hat unsere Welt verändert. Hätte man damals während des arabischen Frühlings (2010/2011) noch annehmen können, es wäre vielleicht eine Veränderung zum Guten, kann man heute wohl eher sagen, dass vor allem Despoten, Diktatoren und Menschen mit sehr bedenklichen Interessen die Macht von Social Media nutzen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Vielleicht sogar in eine bestimmte Richtung zu lenken. Und daher ist das wahre Unheil, das nach Ende dieses Buches nach wie vor über Mumbai schwebt, nicht etwa in der akuten Bedrohung durch Lizard zu finden, sondern in dem Ungemach, das ein einzelnes Posting auf einem reichweitenstarken Account eines beliebten sozialen Netzwerks auslösen kann.
Dieser Ausflug nach Indien hat mir gut gefallen. Pavitr Prabhakar ist ein Sympathikus und braucht sich hinter Peter Parker und Miles Morales nicht zu verstecken. Gerne würde ich ein größeres Treffen der drei Spinnenmänner erleben als hier auf den ersten paar Seiten des Comics. Vor allem aber würde ich gerne weitere Abenteuer aus der Feder von Nikesh Shukla lesen, gerne auch wieder zeichnerisch umgesetzt von Abhishek Malsuni und Tadam Gyadu. Das große Highlight dieses Comics war nämlich nicht die obligatorische Kauleistenpolitur von Superwesen, sondern die sozialkritischen Beobachtungen hinsichtlich der Macht von Social Media. Und wie Menschen in einen moralischen Zwiespalt geraten können, wenn sie einerseits the zone with shit fluten müssen, um irgendwie über die Runden zu kommen, das aber andererseits schwere Gewissensbisse auslöst.
Lange Rede, kurzer Sinn: „Spider-Man: Indien – Netze über Mumbai“ ist eine lohnenswerte Investition für alle Fans der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft – auch oder gerade, weil diese zur Abwechslung mal nicht in Brooklyn oder Manhattan liegt, sondern in den Slums von Mumbai. Mit dem Umfang von 116 Seiten ist man nicht allzu lange beschäftigt, ein unterhaltsamer und inhaltlich wie optisch gelungener Snack für zwischendurch aber definitiv. Der Daumen zeigt nach oben.