Mit dem Fall des Presse-Embargos am 29.3. gingen auch direkt die ersten Reviews des neuen Kettcar-Albums „Gute Laune ungerecht verteilt“ ins Netz. Verschiedentlich las ich irgendwas von Comeback. Klar, bei dem ersten Album seit dem 2017er-Überalbum „Ich vs. Wir“ und der (angekündigten) Pause kann man das so sehen, dass die Band aus Hamburg mit dem sechsten Langspieler ein Comeback feiert. Ich sehe das nicht so. Von meinem musikalischen Horizont sind Kettcar nie verschwunden.
Zeiten und Zustände waren damals schon scheiße, so im Gesamten betrachtet, und die Dinge sind seitdem nicht besser geworden. Kriege, Pandemie, Querdenker, Nazis die von Deportation fantasieren und daraus nicht mal mehr einen Hehl machen, Klimakrise und die zu befürchtende Rückkehr eines Präsidenten namens Trump. Und dazu die allgegenwärtige Gefahr, die vom Machthaber in Moskau ausgeht. Genau genommen dampft die Kacke heute sogar noch mehr als vor sieben Jahren.
Was das mit dem Stammplatz an meinem musikalischen Horizont zu tun hat, fragt Ihr? Ganz einfach: mit „Den Revolver entsichern“ lieferten Kettcar auf dem letzten Album das perfekte Mantra mit, um in all dem Chaos nicht Kopf, Schultern und Mundwinkel sinken zu lassen. „Von verbitterten Idioten nicht verbittern lassen“. Galt damals, gilt heute, wird auch in Zukunft gültig sein. Schauen wir an dieser Stelle doch mal, was die neue Langrille kann, ungeachtet irgendwelcher Definitionssschubladen.
Vorab waren ein paar Singles veröffentlicht worden, die mich als direkt in eine Falle haben tappen lassen. Da war etwa das Stück „München“, das sich mit dem leider immer noch nur allzu gegenwärtigen Alltagsrassismus auseinandersetzt. Die musikalische Aufarbeitung von „Nee, wo Du wirklich herkommst, mein ich“, eingepackt in ein peitschendes, Post-Punk-Gewand, mit ordentlich Druck (lies: Zorn) auf dem Kessel. Der Weg ist für uns als Gesellschaft noch sehr weit und offenbar haben wir angesichts dringender Krisen noch zu viel Kapazitäten zur Verfügung, um über Hautfarben unserer Mitmenschen nachzudenken. Oder deren sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identifikationen infrage zu stellen. Wichtig ist doch, dass ein Markus Söder sich zur Sprachpolizei aufbäumt. Zack, alle Probleme mit einem Schlag gelöst! Wer Zynismus findet – ja, ich weiß. Das oben zitierte Mantra hat es bei all dem Schwachsinn manchmal wirklich schwer, zu wirken.
Es folgte „Doug & Florence“, ein wenig wie eine Empowerment-Hymne für all jene Menschen, die den Bumms, den wir Deutschland nennen, wirklich am Laufen halten. Wir erinnern uns sicher an die Hochphase der Pandemie, an all die schrecklichen Bilder in den Nachrichten, die das produzierte. Und wie ganz plötzlich die bisher mit größter Aufmerksamkeit ignorierte, prekäre Situation (um es vorsichtig auszudrücken) von Menschen, die in der Pflege arbeiten oder in der Logistik, in den Fokus geriet. Und was ist seitdem passiert, was hat sich verbessert? Na hömma, wir standen doch auf den Balkonen und haben geklatscht, das wird doch wohl reichen?! Ja, schon wieder … von verbitterten Idioten und so weiter. Einatmen, ausatmen.
Und dann „Auch für mich 6. Stunde“, das vielerlei Mist, der so passiert in der Welt, spiegelt – und gleichzeitig aber auch Mut macht. Ein bisschen Hoffnung mitliefert. Das musikalische Bengalo in der Nacht. Und das war auch der Song, bei dem ich mich hinsichtlich des Albums ertappt fühlte. Ich war nämlich auch versucht, Kettcars sechstes Studioalbum als „ihr politischstes Album“ zu betiteln. Aber wie Marcus Wiebusch selbst so wunderbar besingt:
„Interview, Promotage, Kommentieren der ganzen Lage
Wichtig, dass man sich verhält, wichtig, dass man Haltung zeigt
„Unser politischstes Album seit…“
Oh bitte, ich bin ganz kurz eingeschlafen“
Und wenn man zurückdenkt an das Album von 2017 – auch das war schon hochpolitisch. „Sommer ‘89“ ist vielen vielleicht noch in Ohr und sollte gerade den Menschen in den AfD-Hochburgen immer wieder mal in die Gehörgänge geschoben werden. Manche Menschen scheinen vergessen und/oder verdrängt zu haben, dass dieses Land schon mit ganz anderen Geflüchtetenströmen fertig geworden ist. Und dass so einige derer, die jetzt unfassbare Freiheiten und die Vorteile einer Demokratie genießen, gleichzeitig aber alles dafür tun, diese Dinge wieder abzuschaffen, dafür 40 Jahre kämpfen mussten. Teilweise ins gelobte Bruderland geflüchtet sind. Darunter sind welche, die frei nach „Wagenburg“, heute online Kommentare schreiben. Kommentare, für die meine Mutter rote Ohren vor Scham bekäme, würde sie derartiges von mir lesen müssen.
Die politischen Betrachtungen der Hamburger Band reichen aber noch weiter zurück. 2008 erklärte Sänger Marcus Wiebusch in einem ZDF-Interview anlässlich der Veröffentlichung des Albums „Sylt“: „Ich transportiere Geschichten, die oft halt davon handeln, dass Verlierer auch mitgedacht werden, dass gesellschaftliche Zustände in Geschichten eingebettet werden, wo man dann sieht, dass nicht alles richtig läuft.“
Und doch: so sehr den Finger in die Wunde gelegt wie hier, nicht ohne ihn vorher in Essig zu tauchen, haben sie bisher noch nie. Aber die Zeiten, sie gestatten eigentlich auch kein Wegschauen mehr.
„Kanye in Bayreuth“, beinahe schon in einer Art Sprechgesang vorgetragen, macht ein anderes Fass auf. Eines, das in diesen Zeiten auch immer wieder aufkommt: Cancel Culture oder die Frage: Wie trennt man Kunst vom Kunstschaffenden? Geht das überhaupt? Kann man noch zu einem Rammstein-Konzert gehen, wenn man weiß, was da so abging, vielleicht immer noch abgeht, und wie Till Lindemann so tickt? Kann man noch „House of Cards“ gucken im Wissen um die Verfehlungen von Kevin Spacey? Und überhaupt: kann man noch guten Gewissens everything Harry Potter konsumieren, wenn man weiß, was für menschenverachtende, mittlerweile auch den Holocaust leugnende (oder mindestens relativierende) Scheiße Frau Rowling so absondert? Was ist man bereit, von einem Kunstschaffenden zu akzeptieren, wo liegt die Grenze? Ich stehe auch regelmäßig vor diesem Problem, auch hinsichtlich meiner Arbeit hier.
„In einer Bayreuther Sommernacht – den grünen Hügel rauf
Morrissey, Louis C.K. – den grünen Hügel rauf
Dass Moral hier objektiv ist, das glaub ich kaum
Gegen Wagner ist jedes Arschloch ein Pausenclown
Das ist subjektiv, meine Meinung, scheißegal
Subjektiv, deine Meinung, auch egal
Und jetzt guck in deinen Plattenschrank
Und dann reg dich auf“
Es gibt auf ein so komplexes Thema keine einfachen Antworten. Ich habe auch keine, merke nur immer wieder, dass es ein Thema ist, das dazu verleitet, mit zweierlei Maß zu messen. „Dass Moral hier objektiv ist, glaub ich kaum.“ Und so weiter. Lediglich den Monikas und Dieters, die immer mehr an den ganz rechten Rändern um Aufmerksamkeit und Lacher buhlen, die behaupten, man dürfe ja nichts mehr sagen, möchte ich entgegnen: doch. Darfst du bzw. dürft ihr. Aber ihr dürft nicht erwarten, dass wenn ihr Grütze in die Welt posaunt, das kommentar- und widerstandslos hingenommen wird. Cancel Culture ist das nicht, eher eine Frage von Anstand. Von Haltung.
Kettcar können aber auch nicht nur die großen Betrachtungen über den Zustand unserer Gesellschaft liefern, sondern sind auch in der Lage, menschliche Dramen in gefühlvollste Musik zu packen. „Was wir sehen wollten“ ist eine behutsame Ballade, ein musikalisches Abschiednehmen von einer geliebten Person. Wer jemals zum Abschiednehmen in einem Zimmer in einem Krankenhaus gewesen ist, ein letztes Mal die Hand der Person gehalten hat, die im Begriff ist, diesen Planeten zu verlassen, wird bei dieser Nummer vermutlich einen Kloß enormen Ausmaßes im Hals haben. Ich fühle mich etwas an „Verraten“ vom Album „Sylt“ (2008) erinnert, in dem es hieß:
„Noch ein Stück geradeaus und die Straße hinunter, alles ist so vertraut, alles ist so friedlich.
Hat sich nicht viel verändert, nur der Wagen vom Haus und die Tür steht weit offen, als wäre jemand kurz aus.
Als wäre jemand gegangen, käme gleich zurück, nimmt dich in den Arm und kümmert sich um dich.
Sagt, mach dir keine Sorgen, du bist nicht allein und deckt dich zu mit den Worten: Ich werde bei dir sein.“
Die Vibes sind verwandt, die Gefühlsknöpfe, die hier gedrückt werden, auch. Und dann, quasi als das Beste zum Schluss, ist da ja auch noch die das Album beschließende Großtat „Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“. Hat man Selbstzweifel jemals so intensiv getextet in einem Popsong gehört? Zum Schluss sind Marcus Wiebusch hier:
„In deinem gespielten Optimismus, den verschollenen Idealen
In jedem grauen Haar, in deinem Eigenheimsparplan
Den Kitsch in deinen Texten, deinen Falten im Gesicht
Seh ich, du hast immer noch die gleiche Angst wie ich
Seh ich, du hast immer noch die gleiche Angst wie ich
Und du tust, was du musst
Und du hoffst, dass es langt“
Ja, Marcus. Manchmal langt es. Siehe Einleitung. Manche Textzeile entwickelt sich zum Mantra und hilft anderen Menschen dabei, nicht den Mut zu verlieren. Von verbitterten Idioten nicht verbittern lassen und so.
Der Tag, an dem ich diese Zeilen schreibe, wird vom Kalender als 30. März 2024 ausgewiesen. Bis zur Veröffentlichung des Albums dauert es nun nicht mehr lange, schon kommende Woche ist es so weit. Und auch wenn jetzt noch nicht abzusehen ist, was musikalisch in den verbleibenden Monaten noch angerauscht kommen wird, so möchte ich doch jetzt schon festhalten: „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist eines der größten und wichtigsten Alben des Jahres. Für die Band Kettcar, klar, aber auch so.
Von allem, was man an den Hamburgern schätzt und mag, gibt es hier immer eine Portion mehr. Wenn es der Inhalt erfordert, ist der Sound rotziger, punkiger, wütender oder einfühlsamer, behutsamer, eindringlicher, als man es zuvor zu hören bekam. Die Produktion des Albums schallert mir noch dynamischer, noch geschmeidiger in die Gehörgänge. Die Arrangements sind erneut vielfältiger geraten als noch zuvor. Manchmal knallt es gewaltig, manchmal sind die Töne beinahe wie Farbtupfer auf weißer Leinwand. Die Texte schinden noch ein bisschen mehr Eindruck als in den vergangenen Jahren. Und Sänger Marcus Wiebusch heisert noch etwas intensiver ins Mikrofon.
An manchen Stellen macht mich „Gute Laune ungerecht verteilt“ unfassbar wütend. Und das nicht, weil das Album nicht gut wäre, sondern weil mir die Herren Kettcar meine Hilflosigkeit und Unfähigkeit, an Dingen etwas ändern zu können, vor Ohren führen. Und gleichzeitig bin ich dankbar, dass Kettcar die Worte finden, die mir vor Wut oft fehlen, und hoffe, dass sie die richtigen Personen erreichen. Damit klinke ich mich ein in den frommen Wunsch von Marcus Wiebusch und hoffe, dass es langt. Dass es eines Tages wirklich langt. Und bis dahin gilt weiterhin: Von verbitterten Idioten nicht verbittern lassen.